Digesta 2007

ZUR JURISTISCHEN PROFESSIONALISIERUNG IM ALTEN GRIECHENLAND[1]

(Plädoyer für ein rechtshistorisches Umdenken)

Heinz Barta, Innsbruck

Για να ανοίξετε τη μελέτη σε μορφή pdf πατήστε εδώ

 

 

„… denn etwas Schönes ist das Gerechte und das Recht…“

Platon, Nomoi V 728c

 

Dass das „Kulturvolk der Griechen“, im Gegensatz zum „Juristenvolk der Rö­mer“ weder eine Rechtswissenschaft, noch eine – wenn man unterscheiden will – Ju­risprudenz im Sinne einer namhaften Professionalisierung im Rechtsbereich her­vor­gebracht habe, gehört zu jenen Topoi der Rechtswissenschaft und Rechts­ge­schi­chte, die schon zu lange nicht mehr hinterfragt worden sind[1]). Dies obwohl wir wis­sen, dass das Rechtsdenken der Griechen mehr hervorgebracht hat, als das allegori­sche Paar von Themis und Dike, das freilich auch zu der noch für uns wichtigen Unter­scheidung von Rechtsidee und Rechtsbegriff[2]) sowie von Recht im objektiven und subjektiven Sinn geführt hat. – Gerne vergessen wird auch, dass wir den Helle­nen auch die Grundlagen der modernen Wissenschaft mit ihren Methoden, die Phi­lo­sophie, Logik, Grammatik, Rhetorik und auch Legistik uva verdanken, ohne die es gar keine Rechtswissenschaft gäbe.

 

  1. Abbau von Vorurteilen tut Not

Das griechische (Rechts)Denken hat darüber hinaus die Grundlagen für unsere Demokratie, überhaupt die Staatsformen geschaffen und historisch-politisch parallel dazu die Rechtsfähigkeit/Rechtssubjektivität samt den subjektiven Rechten entwi­ckelt (Solon!) und es normierte mit der Hybrisklage bereits einen in seiner Trag­wei­te erst viel später wieder erkannten Kernschutzbereich für die bürgerliche Freiheit (Eleu­theria) und Gleichheit (Isonomia) sowie den Schutz der menschlichen Per­sön­lich­keit als Keimzelle der Persönlichkeits-[3]) und Menschenrechte. Der „moderne“ Ein­zelne, das Individuum (eine Latinisierung des griechischen átomos) ist im alten Griechenland in einem langgezogenen Entwicklungsprozess entstanden. Die Hy­brisk­lage diente sehr wahrscheinlich auch der römischen actio iniuriarum als Vor­bild. – Aus Griechenland stammen ferner das Konzept des Rechtsstaates als „Euno­mia“ und idF von „Isonomia“ (Gleichheit vor dem Gesetz), das zur „rule of law“ wur­­de, das größte gesellschaftliche Bedeutung erlangende Steuerungselement des Ge­setzes samt der noch das Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts auszeichnenden Ach­tung vor dem Gesetz, wie überhaupt das Gesetzgebungsverfahren, der Kodi­fi­ka­tionsgedanke, die Idee der Verfassung mit Normenkontrolle[4]). Auch das Konzept einer demokratischen Gerichtsbarkeit samt einer moderaten Lückenfüllungs­kompe­tenz des Richters (wie es schließlich auch durch K. A. v. Martini in § 7 ABGB ver­wirk­licht wurde), fundamentale Verfahrensgrundsätze – zB die freie und gebundene Beweiswürdigung und überhaupt die Beweislehre, das Neuerungs- und das Rück­wirkungsverbot, das „audiatur et altera pars“, Ansätze des „in dubio pro reo“ oder Mut­willensstrafen im Prozess – sowie die wissenschaftliche Begriffs- und System­bil­dung und das Interesse am Gesamtkomplex hermeneutisch-methodisch-defini­to­ri­scher Fragestellungen oder so wichtige Korrektive wie das der Epiei­keia/aequi­tas/ Bil­lig­keit und alles was sich daraus entwickelt hat[5]). Das griechische Recht kennt aber auch bereits so diffizile Gebilde wie gesetzliche Belastungs- und Veräuße­rungs­verbote oder die Revenuenhypothek. – Alles das, bis hin zur Rechtsphi­loso­phie, sind keine „Erfindungen“ Roms oder der Neuzeit. Und Platon ist nicht nur der Erfinder der Gesetzespräambel und Generalklausel, sondern auch des soft law[6]). Ari­stoteles und sein kongenialer Schüler, Freund, Mitbegründer des Peripatos und Mi­tautor Theophrast von Eresos bauten auf diesem Fundament auf und schufen in den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Grundlagen der europäi­schen Rechtswissenschaft[7]).

Aber nicht nur die Rechtsphilosophie ist – wie ohnehin häufig erwähnt – grie­chi­schen Ursprungs, auch Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, praktiziert als Ver­fassungs- und Privatrechtsvergleich sowie die ersten Ansätze einer sozialwis­sen­schaftlichen Rechtsforschung (Rechtstatsachenforschung und Rechtssoziologie) und bereits in höchster Ausformung die Rechtspolitik wurden im antiken und hel­lenistischen Griechenland angewandt. Die Eroberungen Alexander des Großen und die sich nach dem Tod Alexanders herausbildenden Diadochenreiche der Anti­go­ni­den, Seleukiden, Ptolemäer und Attaliden bestärken und fördern die bereits beste­hen­den Tendenzen zur Ausbildung einer griechisch-hellenistischen Rechts­wissen­schaft durch neue politische und administrative Rahmenbedingungen.

Griechenland besaß aber auch schon seit der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. eine wissenschaftliche Gesetzeskritik und ein noch von Platon ins Leben ge­ru­fe­nes und von Aristoteles, Theophrast und Demetrios von Phaleron fortgeführtes rechtliches Experten- und Beratungswesen. – Aus den forensischen Rhetoren und Logographen entstand spätestens nach der makedonischen Machtübernahme (338 v. Chr.) ein Anwaltsstand. Schon vorher war aber die Rhetorikausbildung[8]) durch eine Amalgamierung mit der Philosophie und ihrem mittlerweile reichen Fächerkanon auf ein beachtliches Ausbildungsniveau gebracht worden[9]).

Die Römer vernachlässigten im Gegensatz zu den Griechen, das Staats-, Ver­fas­sungs-, Verwaltungs- und Verfahrensrecht und kümmerten sich erst spät um das Strafrecht und maßen – anders als häufig kolportiert – auch noch in der Klassik we­der dem Begriff, noch der Definition oder dem System Bedeutung zu. Sie scheuten die Abstraktion und lehnten dem griechischen Rechtsdenken bekannte (Pri­vat)­Recht­­sinstitute wie die direkte Stellvertretung[10]), oder eine „handlichere Form der Zession“[11]) oder den Vertrag zugunsten Dritter[12]) ab. – All das ist bei den Rö­mern, die sich vornehmlich auf das Privatrecht beschränken, ausschließlich oder doch vor­neh­mlich griechischen Ursprungs. – Diese Tendenz setzt sich im Rahmen der Aus­bildung von Kollisionsrecht, also dem was später zum internationalen Pri­vat­recht wurde, fort, das von den Griechen früh im Rahmen ihrer Kolonisation und dann im Hellenismus – und zwar über erste Ansätze hinaus – geschaffen wurde[13]). Die Frage, ob es im antiken Griechenland bereits die Urformen eines internatio­na­len Pri­vatrechts und eines internationalen öffentlichen Rechts gegeben habe ist dem­nach zu bejahen[14]).

 

  1. Griechische Rechts-Theorie folgt hochentwickelter Rechts-Praxis

Dem in der Folge kurz behandelten griechischen Register-, Urkunden-, Archiv-, Bank- und Notariatswesen, hatten die Römer nichts Gleichwertiges entgegen­zu­se­tzen und was sie später verwenden ist griechischen Ursprungs. Das Handelsrecht der Griechen war hoch entwickelt: Sie kannten offenbar die Anweisung und viel­leicht auch schon Vorformen des Wertpapiers und die Lex Rhodia de iactu verrät ihre Herkunft durch ihre Bezeichnung[15]).

In diesem Kontext sei wenigstens erwähnt, dass es weder Ziel dieses Beitrags, noch meiner größeren Studie ist, möglichst viel und ausschließlich auf griechische Ursprünge zurückzuführen. Insbesondere wird keine (isolierte) Konfrontation des griechischen mit dem römischen Rechtsdenken angestrebt. Allein Rechtsgeschichte hat ebenso wie die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin historische Wirklich­kei­ten zur Kenntnis zu nehmen. Und hier ist ein beträchtliches Manko festzustellen. Relativiert wird diese scheinbare Frontstellung zwischen dem griechischen und dem römischen Rechtsdenken wohl auch dadurch, dass – wie eben angemerkt – ein Zu­rech­trücken mancher rechtshistorischen Überlieferung nicht bedeutet, dass all das ge­nuin griechisch gewesen sei. Vielmehr haben auch die Griechen – in der Philo­so­phie[16]), ihrem Wissenschaftsverständnis und natürlich auch ihrem Rechtsdenken – von anderen Völkern gelernt und auch Rechtseinrichtungen übernommen. Hier ist die Forschung erst dabei, für größere Klarheit zu sorgen[17]).

Für das Privatrecht bedeutend waren neben der erstmaligen Entwicklung der Rechtsfähigkeit (für attische Bürger) in der Rechtsgeschichte – Vorformen der ju­ri­stischen Person bestehen seit Solon – beispielsweise auch die Publizität des Grund­stücksverkehrs, die im hellenistisch-ptolemäischen Ägypten bereits zur Einrichtung von Grundbüchern führte oder die auf Platon, vielleicht auch Demosthenes zu­rück­gehende Einteilung in öffentliches und privates Recht, die fünf- bis sechshundert Jahre vor Ulpian sogar schon im Hinblick auf eine unterschiedliche Rechts­durch­setzung und Behördenzuständigkeit – also moderner als Ulpians wahrscheinlich ohne­hin rezipierter Ansatz – gedacht worden war[18]). Erwähnt werden soll noch die Einteilung in körperliche und unkörperliche Sachen oder die solonische Popu­lark­lage[19]). Wahrscheinlich ist auch das Institutionensystem griechischen Ursprungs[20]). Und ähnliches gilt für die Herkunft des Begriffs der „obligatio“, der vielleicht nur eine von Gaius vorgenommene Übernahme des griechischen Begriffs Synallagma ist[21]). Wer die Entwicklung der Selbsthilfe und das Entstehen des Gerichtszwangs – und damit das Werden des ‚modernen’ Staates verstehen will, sollte dies anhand der quellenmäßig gut belegten griechischen Rechtsentwicklung tun, die uns näher lie­gen sollte als Rekurse auf Indianerstämme. Das gilt auch für das Entstehen der Ver­schuldens- aus der Erfolgshaftung, wobei die Verschuldensgrade oder -arten von Dra­­kon bis Aristoteles Gegenstand griechischen Nachdenkens waren: Das griechi­sche Ergebnis hatte (seit Drakon ~ 623/22 v. Chr., diese Zahlen schwanken um eini­ge Jahre) vorsätzliches und unvorsätzliches Handeln unterschieden, wozu in der zwei­ten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. (Anaximenes von Lampsakos?) die Ab­gren­zung von Verschulden und Zufall trat. Aristoteles hatte bereits innerhalb des Vor­­satzes, Vorsatztypen unterschieden. Die römische Klassik hat dieses Niveau ge­halten, nicht aber erweitert oder vertieft. Erst im Werk Justinians kommt es zur Unter­scheidung innerhalb des unvorsätzlichen und zunächst noch einheitlichen Fahrlässigkeitsbereichs zu Unterscheidungen. – Aus Griechenland kommt – wie vie­­les andere mehr – die Erbfolgeordnung nach Parentelen[22]), das wechselseitige und das wechselbezügliche Ehegattentestament und die behördlich-staatliche Ein­wei­sung der Erben in die Erbschaft, was gerade für unser österreichisches (Erb)­Recht interessant ist. Manche meinen, dass auch die Universalsukzession bereits griechischen Ursprungs sei[23]).

Als Beispiel dafür wie fein das griechische Erbrecht bereits in klassischer und frühhellenistischer Zeit entwickelt war, sei auf die 1922 in Dura-Europos gefunde­nen Pergamenturkunden verwiesen, von denen eine ein Gesetz dieser makedo­ni­schen Kolonie in Mesopotamien (linkes Euphratufer) über die gesetzliche Erbfolge enthält. Diese Regelung kennt eine Parentelordnung mit einem Vorrecht des Man­nesstammes und entspricht den Regelungen anderer griechischer Poleis, insbe­son­de­re jener von Athen. Dieser Fund stellt unter anderem ein Indiz für die Heraus­bil­dung eines gemeinen griechischen Rechts (koinoì nómoi) dar, auf die hier nicht nä­her eingegangen werden kann. Die griechische Koiné dieser Zeit umfasste neben der Sprache immer mehr auch das Recht. Die Regelung lautet[24]):

„Die Nachlässe der Verstorbenen gehen auf die nächsten Blutsverwandten über. Die nächsten Verwandten sind: Wenn der Verstorbene keine Nachkommen hinter­las­sen hat oder keinen Sohn nach den Gesetzen adoptiert hat, der Vater oder die Mutter unter der Voraussetzung, dass sie nicht wieder geheiratet hat.

Lebt keiner mehr von ihnen, dann die von einem Vater abstammenden Brüder. Wenn auch davon keine Personen vorhanden sind, dann die von einem Vater abstam­menden Schwestern.

Wenn keine von diesen existiert, aber der Vater des Vaters oder die Mutter des Vaters oder ein Neffe väterlicherseits lebt, so gehört das Erbe ihnen.

Wenn auch keiner von diesen vorhanden ist, soll das Vermögen dem König anheimfallen.

Die gleiche Ordnung soll auch für die anderen rechte und Verpflichtungen der nächsten Verwandten gelten“.

Ich gehe in der Folge auf die praktische Professionalisierung des Rechtsdenkens im alten Griechenland ein, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welch’ beacht­li­che Leistungen dort bereits von einer gewählten Beamtenschaft und Magistraten auf der einen und einer lebendigen und bereits beachtlich diversifizierten (Kautelar-)­Rechtspraxis auf der anderen Seite erbracht wurden. Ohne den hohen Standard der griechischen Kautelarjurisprudenz hätte sich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhun­derts v. Chr. keine griechische Rechtswissenschaft entwickeln können. Die Anwen­dung der wissenschaftlich-philosophischen Methoden insbesondere durch Aristo­te­les und Theophrast auf den Bereich des Rechtsdenkens (die sogenannte „Kunst der Gesetzgebung“) setzte eine entwickelte Kautelarjurisprudenz voraus.

Es wurde schon angesprochen: Das Bild des griechischen Rechtsdenkens wurde bisher – aus welchem Grund auch immer[25]) – sehr unvollständig gezeichnet. Mitun-ter muss sogar von schweren Verzeichnungen gesprochen werden. Es erscheint da­her an der Zeit, ein ganzheitlicheres Bild zu entwerfen, das wenigstens die großen Li­nien von denen wir heute wissen oder die sich doch feststellen lassen, berück­sich­tigt. – Als in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Griechenland die grie­chi­sche und damit die europäische Rechtswissenschaft entstand, blickte die grie­chi­sche Rechtsentwicklung bereits auf einen langen und differenzierten Weg zurück.

Im Laufe der Jahrhunderte hatten sich folgende juristische Bereiche ausgebil­det, natürlich nicht gleichzeitig, sondern nach und nach: Am Ende des 8. Jahrhun­derts v. Chr. (Hesiod) und wohl auch schon in homerischer Zeit erscheint (aus heu­ti­ger Sicht) von den zentralen juristischen Professionen nur das Richtertum vor­han­den, während das Recht, großteils noch ungeschieden von anderen gesell­schaft­li­chen und verwandten Quellen (Politik, Religion, altes Herkommen, Gewohn­heits­recht, Brauch Sitte, Moral), aus dem sogenannten nomologischen Wissen (im Sinne Max Webers) geschöpft wird. Dann aber geht es Schlag auf Schlag: Bereits ~ 682 v. Chr. wird das historisch ungesicherte und schwache Königtum endgültig von kom­pe­tenzmäßig geschiedenen und zeitlich nicht zu lange gewählten Archonten abgelöst und es entwickeln sich erste namhafte professionelle juristische Tätig­kei­ten über das Richtertum hinaus. Spätestens ab der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. steht das Gesetz als Instrument der Gesellschafssteuerung zur Verfügung; Dre­ros/ Kr­eta[26]). Schon davor waren im Rahmen der Einsetzung der Archonten die Thes­mo­theten (sechs der zehn Archonten trugen diese Bezeichnung) beauftragt worden, das Recht, seine Regeln und richterliche Urteile für Attika zu sammeln und aufzu­zeich­nen. Leider wurde uns davon fast nichts überliefert. Aber das in römischer Zeit Bedeutung erlangende Edikt stammt aus dieser Zeit. Die nächsten großen Ent­wick­lungsschritte betreffen in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. den schon erwähnten Drakon (~ 623/22 v. Chr.) und Solons Gesetzgebung an der Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. (594/3 v. Chr.). Auch der Rückfall in die Tyrannis unter Peisistratos in den Sechziger-Jahren des 6. Jahrhunderts v. Chr. brachte die eine oder andere Entwicklung, auf die einzugehen ich mir aber hier versagen muss; zB Wanderrichter. Und mit den Reformen des Kleisthenes (~ 508 v. Chr.) stehen wir bereits an der Schwelle zu einem besser dokumentierten und bekannteren Abschnitt der griechischen Rechtsgeschichte. Im Laufe des klassischen 5. Jahr­hun­derts v. Chr., insbesondere nach den Perserkriegen und der darauf beginnenden gro­ßen Bedeutung Athens, haben sich im antiken Griechenland eigentlich bereits alle juristischen Bereiche und Professionen entwickelt, die auch uns zur Verfügung stehen. Ich berichte davon idF kurz.

In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. macht die Philosophie, dank Pla­tons und seiner Akademie, und mit ihr das allgemeine Wissenschaftsverständnis riesige Fortschritte und nach dessen Mitte entstehen aus dem Schoße der Phi­loso­phie mit der „Ethik“ und der „Politik“ wichtige Nachbardisziplinen des wissen­schaft­­lichen Rechtsdenkens, die schließlich das Entstehen einer autonomen griechi­schen Rechtswissenschaft (aus der Philosophie) ermöglichen. – Die Philosophie hat­te nunmehr ein Niveau erreicht, das ein kontinuierliches Entstehen neuer Wis­sen­schaftsdisziplinen ermöglichte; heute würden wir sagen: naturwissen­schaft­li­cher, geisteswissenschaftlicher, sozialwissenschaftlicher und eben auch die Juris­pru­denz. Das Entstehen der griechischen Rechtswissenschaft ist noch von den gro­ßen Persönlichkeiten der griechischen Philosophie gefördert und begonnen worden. Man denke nur an Platons „Politeia“ und „Nomoi“ und die „Rhetorik“, „Nikoma­chi­sche Ethik“ und „Politik“ des Aristoteles, wozu das wichtige Mit-Schaffen Theo­phrasts im Rahmen der aristotelischen „Politik“ und wohl auch der „Athenaion Po­li­teia“ kommt, an das sich schließlich das des gemeinsamen Schülers und späteren Ge­setzgebers von Athen, Demetrios von Phaleron, anschließt, der schließlich sein Know-How ins ptolemäische Ägypten mitnimmt. – Hatte Aristoteles seinen Schwer­­punkt auf den Verfassungsvergleich gelegt, so untersuchte Theophrast das Privatrecht und weitere (Rechts)Bereiche. Zwischen beiden war es offenbar wie im Bereich der Naturwissenschaften (Zoologie: Aristoteles, Botanik: Theophrast) auch im Bereich des Rechtsdenkens (Verfassungsrecht: vornehmlich Aristoteles, vgl „Athe­naion Politeia“; Privatrecht und weiteres: Theophrast) zu einer Aufgaben­tei­lung bei gemeinsamer Projekt- und Aufgabenplanung sowie gemeinsamen Metho­denüberlegungen gekommen. Die philosophisch bereits erprobte geschichtliche und vergleichende Rechtsbetrachtung (daraus entsteht die Rechtsgeschichte und die Rechts­­vergleichung), aber auch erste Ansätze der Rechtstatsachenforschung und Rechts­soziologie sowie eine wissenschaftliche Rechtspolitik sind in diesem Kontext entstanden. – Parallel zu dieser Entwicklung hatte sich auch die Rhetorik und damit auch die Gerichtsrhetorik zu einer Wissenschaftsdisziplin weiterentwickelt.

 

III. Wer waren die Juristen Griechenlands?

Die „Juristen“ Griechenlands – oder vielleicht besser: seine Rechtswahrer, Dis­ku­tanten, Anwälte, normativen Anreger, ansatzweisen Rechtsdenker, Ausleger, sprach­­lichen Gestalter und Popularisierer von rechtlichem Gedankengut – waren auch die Politiker, Philosophen, Dichter[27]) und nach der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. insbesondere auch die forensischen Rhetoren[28]) und in deren Kielwasser die Sophisten sowie – als Angehörige des seit Solon bestehenden Volksgerichts, der Eliaia – das richtende Volk[29]), das als Ganzes nicht nur an der Volksversammlung teilnahm, sondern auch an deren Kompetenz als Volksgericht. Dies auch in dem Sinne, dass aus den Aktivitäten und Äußerungen dieser Personengruppen und ihrem Interesse am Recht und seiner Entwicklung interessante und wichtige Rückschlüsse auf den jeweiligen Rechtszustand gezogen werden können[30]). – Das Beispiel des berühmten Architekten und Städteplaners Hippodamos von Milet[31]) lehrt uns, dass sich neben den genannten Personengruppen auch noch andere „Nicht“-Juristen am rechtlichen Diskurs beteiligten.

Immer wieder unterschätzt wird auch in Fachkreisen das Rechtswissen der athe­ni­schen Bürger. Es soll daher betont werden, dass dies anders war, was etwa bei G. M. Calhoun nachzulesen ist[32]). Die Abwertung der griechisch-demokratischen Volks­­gerichtsbarkeit erscheint dabei auffallend unter kontinentaleuropäischen Wis­sen­schaftlern stärker ausgeprägt, als unter angloamerikanischen, was die Vermu­tung nahe legt, dass die Einschätzung mit dem eigenen System korreliert.

Daneben gab es im alten Griechenland früh sachverständige Personen in den Poleis mit beachtlichem juristischen Aufgabenkreis, nämlich gewählte Beamte und Ma­gistrate (verschiedene Archonten[33]): Thesmotheten, Polemarchen, Mark­tauf­se­her usw samt deren fachkundigen Helfern, sogenannten Assessoren/Paredroi)[34]), wo­zu Archivare, Notare und Bankiers/Trapezitai[35]) sowie im privaten Bereich fo­ren­sische Rhetoren und die Logographen/Redenschreiber[36]) mit einem wenigstens teilweisen oder auch schon ausschließlich juristischen Aufgabenkreis traten.

Hier gilt es auch die Frage zu stellen, ob die Griechen in ihrem Rechtsdenken nur zu einem rationalen oder doch bereits – unterstützt von der Philosophie – zu ei­nem wissenschaftlichen und daher vielleicht schon zu einem als recht­swissen­schaft­lich zu bezeichnenden Umgang mit dem Recht und seinen Fragestellungen gefun­den haben. Hüten sollte man sich dabei davor, den Griechen – und natürlich später auch den Römern – unser verengtes modernes Wissenschaftsverständnis überzu­stül­pen[37]).

 

  1. Ursprung des europäischen Rechtsdenkens

Professionalisierungen in der Antike sind nichts Selbstverständliches. Schon gar nicht im Bereich von Recht und Justiz. – Wir müssen uns daher fragen, ob es im antiken Griechenland bereits Rechtsberufe gegeben und wo eine solche Entwick­lung allenfalls stattgefunden hat. Das überraschende Ergebnis – vorweggenommen – lautet: Griechenland kannte schon eine Reihe juristisch-beruflicher Ausprägungen und dies in ganz unterschiedlichen Feldern der Gesellschaft: nämlich der Politik, der Justiz und im Beamtentum ebenso wie im privat- und wirtschaftsrechtlichen Se­ktor. Aber auch andere Bereiche der griechischen Kultur haben die Professio­na­li­sie­rung, „Rationalisierung“ und schließlich die Verwissenschaftlichung des Rechts­den­kens vorangetrieben. Der letzte Schritt ging sowohl von der disziplinär reifen Phi­losophie als auch von den aktuellen politischen Rahmenbedingungen aus.

Es lässt sich daher mit gutem Grund sagen: Im alten Griechenland stand nicht nur die Wiege der abendländischen Philosophie sowie von Wissenschaft und Kunst usw, sondern hier lag auch der Ursprung des europäischen Rechtsdenkens und hier begann die europäische Rechtswissenschaft. Wir können auf diese Abstammung stolz sein. – Die bisherige Fixierung der Rechtsgeschichte, aber auch anderer Dis­zi­plinen auf das römische Recht erscheint verkürzt; zumal der griechische Geist auch im Rechtsdenken ein anderer, als der römische war. Damit meine ich, dass der Weg der Griechen zu einer eigenen Rechtswissenschaft ein anderer als der der Römer war und dass daher die Kriterien, was unter Rechtswissenschaft zu verstehen und wann sie anzunehmen ist, nicht in beiden Fällen dieselben sein können. Das wurde bisher kaum beachtet.

Warum der wichtige Beitrag Griechenlands zur europäischen, ja der globalen Rechtskultur bisher so wenig anerkannt wurde, ist wieder eine andere Frage. Sie kann hier nicht behandelt werden. Die Richtung der Antwort wurde aber bereits von H. E. Troje in seiner Antrittsvorlesung angedeutet[38]). – Wir wenden uns erneut der juristischen Professionalisierung bei den Griechen zu.

In der griechischen Geschichte tritt uns erstmals am Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. (~ 682 v. Chr.) eine Berufsgruppe entgegen, die bereits ausschließlich mit recht­lichen Aufgaben betraut war und deren Angehörige als erste Juristen ange­se­hen werden können. Es sind die schon erwähnten Thesmotheten[39]), die wohl als frühes politisches „Ergebnis“ der langanhaltenden und zum Teil schweren politi­schen Auseinandersetzungen zwischen Aristokratie und Demos anzusehen sind. Ihr Aufgabenkreis legt eine solche Annahme nahe. – Sie zählen zu den höchsten Beam­ten der Polis.

In den sechs Thesmotheten begegnen uns bereits griechische Berufs-Juristen, mögen sie nach ihrer Einführung in den Achtziger-Jahren des 7. Jahrhunderts v. Chr. auch nur – wie die anderen drei der insgesamt neun Archonten – zeitlich sehr kurz, nämlich auf ein Jahr bestellt worden sein[40]). Es ist anzunehmen, dass bei ihrer Wahl bereits eine gewisse Fachkompetenz den Ausschlag gegeben hat. Unter ihnen befanden sich nämlich berühmte Männer und Gesetzgeber[41]). So soll Drakon Thes­mo­thet gewesen sein[42]). Später wurden den Thesmotheten, um sie zu unterstü­tzen und allenfalls (anfänglich) fehlendes Spezialwissen auszugleichen, wie auch ande­ren Magistraten, juristisch hoch qualifizierte Assessoren[43]) beigegeben:

„The higher officials with legal jurisdictions were charged with duties which re­quired considerable knowledge of the law; they were empowered to accept or to re­ject complaints, to conduct preliminary hearings (anakriseis), and to introduce actions in proper form into the dicastic courts for trial. Since they were usually chosen by lot for a term of one year only, it is clear that their legal knowledge and experience would in general be that of the average dicast. The way in which this difficulty may have been met is indicated by a provision permitting the chief archon, the king archon, and the polemarch each to choose two assessors (paredroi) who assisted in the performance of his duties; his own legal knowledge could thus be supplemented by the selection of men with special qualifications. And this leads naturally to a con­sideration of more ample and specialzed legal knowledge than that of the average dicast and of the extent to which men who possessed it may be regarded as constituting a learned legal profession”[44]).

Die Rekrutierung der Thesmotheten erfolgte zunächst vornehmlich noch aus dem Kreis der adeligen Eupatriden und war daher nicht unproblematisch[45]). Aber Griechenland entwickelte – wie erwähnt – früh eine Tradition der Vertretung des Demos durch wohlgesinnte und fortschrittlich denkende Aristokraten[46]). Ein he­raus­ra­gendes Beispiel war Solon. – Nach Ablauf ihrer kurzen einjährigen Amtszeit wechselten die Thesmotheten, als juristisch wie politisch versierte Männer, in den Areopag[47]), wo ihr Sachverstand willkommen war[48]). Das erworbene Fachwissen ging somit nicht verloren.

„The Areopagus continued to participate in the administration of justice in the Solonian constitution as before. Aristotle’s description of its powers is practically a repetition of what he says regarding the pre-Solonian Areopagus. [Athenaion Poli­teia 3, 6] It continued to be guardian of the law and overseer of the constitution. In the exercise of these functions it had full authority to fine and otherwise to punish offenders. It still acted as censor morum just as before. … Opinion is divided as to whe­ther the Heliaia or he Areopagus audited the accounts of outgoing magistra­tes“[49]).

Die schon in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. tätigen Thesmotheten mussten demnach wie die anderen Archonten bereits über beachtliche Rechtskennt­nis­se innerhalb des alten Nomos verfügt haben[50]).

Die erbitterten Partei- und Klassenkämpfe des 7. Jahrhunderts v. Chr. führten zum Verlust des Adelsprivilegs exklusiver Rechtskenntnis und Rechtsprechung. Der Demos forderte vehement auch eine unparteiische Rechtspflege und Rechts­auf­zeich­nungen, zumal die „weder aufgezeichneten, noch im Einzelnen durch­ge­bil­de­ten und festgesetzten Normen des Gewohnheitsrechts … dem freien Ermessen der Richter den weitesten Spielraum“ gaben. Deshalb wurde um die Mitte des 7. Jahr­­hunderts v. Chr. die „ordentliche Jahresbehörde der sechs Thesmothetai ein­ge­setzt“, die ein Kollegium bildeten.

”Die Thesmothetai, ‘die Rechtssetzer’, sollten nach Aristoteles [Athenaion Poli­teia 3, 4] ‘die Satzungen’ [tà thésmia] aufzeichnen und zu den richterlichen Ent­schei­dungen bei Prozessen bewahren. Da die Thesmia aufgezeichnet werden soll­ten, so waren sie mündlich überlieferte Rechtsnormen. Die Aufzeichnung sollte das bestehende Recht feststellen und sichern. Quellen für die Aufzeichnung waren: die eigene Kenntnis der Thesmothetai, die Erkundigung bei rechtskundigen Männern und Richtersprüche, die in dem einzelnen Falle die geltenden Rechtsnormen, Ge­wohn­heiten und Anschauungen zum Ausdruck brachten“[51]).

„Noch zur Zeit der Demokratie lag es ihnen [sc den Thesmotheten] ob, alljähr­lich die Gesetze auf etwaige Widersprüche und andere Mängel zu prüfen und deren Be­seitigung durch die Gemeinde zu veranlassen. Als rechtspflegende und rechts­kun­dige Oberbeamte hatten sie in weitem Umfange die Gerichtsleitung bei öf­fent­lichen Klagen, d. h. bei Prozessen wegen rechtswidriger Handlungen, die das Inte­resse der Gemeinde berührten oder gar ihre Staats- und Rechtsordnung bedroh­ten. Die Einsetzung der Thesmothetai bedeutete die Einführung des aufgezeich­ne­ten, öffentlich bekannten Gesetzesrechtes an Stelle des mündlich unter den Kundi­gen (den Eupatridai) sich fortpflanzenden Gewohnheitsrechts“[52]).

Wir haben es bei den Thesmotheten, wie erwähnt, bereits mit griechischen (Be­rufs)­Ju­risten zu tun, die auch als Juristen im Sinne von F. Schulz[53]) zu betrachten sind.

Eine knappe, übersichtliche und informative Darstellung der frühen griechi­schen Magistrate und Gerichte findet sich bei D. M. MacDowell[54]), der den Übergang von der absoluten Erbmonarchie von Königen (‚basileus’) auf bestimmte gewählte Ma­gistrate mit zeitlich begrenzter Funktionsdauer schildert. Der wichtigste Schritt be­traf dabei das eben erwähnte Schaffen von Archonten (‚arkhon’ heißt Führer, Herr­scher), die zunächst, verteilt auf mehrere, die königliche Macht nur auf be­stimm­te Zeit ausübten. Später wurden weitere Ämter geschaffen, was eine zusätz­li­che Ge­waltenteilung bedeutete, die neben dem Bedürfnis nach klaren und begrenz­ten Kom­petenzen auch dazu dienten, politische Rückfälle (durch Machtein­schrän­kung und gegenseitige Kontrolle) zu verhindern. Dazu MacDowell[55]):

„There was the polemarch, whose name means ‚commanding in war’; and the­re were the thesmothetai, whose name means something like ‘laying down law’ or ‘sta­ting rules’. The arkhon, the basileus, the polemarch, and the six thesmothetai ca­me to be known as ‘the nine arkhons’, but by the fifth century many other types of official also existed, any of which could be called an arkhe (‘rule’ or ‘office’ or ‘ma­­gistracy’): generals, market controllers, and so on”.

Kritisch schildert G. M. Calhoun[56]) den gesellschaftlichen Hintergrund und Wand­­lungsprozess von der (Erb)Monarchie zur Adelsherrschaft/Aristokratie, was allerdings quellenmäßig schlecht dokumentiert ist:

„In marked contrast to the relatively complete portrayal of life under the monarchy, knowledge of conditions in the aristocracies is fragmentary and uncertain”.

Ähnlich kritisch wie G. M. Calhoun hat auch H. Bengtson diese frühen griechi­schen rechtsorganisatorisch-professionellen Entwicklungen eingeschätzt[57]):

„Mit der Abschaffung des Königtums fielen dem [griechischen] Adel alle wich­ti­gen Funktionen und Ämter im Staate zu. Besonders folgenreich aber wurde die Über­nahme des gesamten Gerichtswesens. Die Eupatriden in Athen, sagt Plu­tarch[58]), sind die Kenner der göttlichen Dinge (d.h. sie bekleiden die Priesterämter), sie stellen die Archonten, sind Lehrer der Gesetze, Erklärer des göttlichen und des irdi­schen Rechts[59]). In vielen Fällen kam es zur Ausbildung einer regelrechten Klas­sen­justiz, unter der die breite Masse, Gemeinfreie und unter ihnen vor allem die kleinen Bauern, empfindlich zu leiden hatten. In dem Gleichnis vom Habicht und von der Nachtigall hat Hesiod diesem ungerechten Zustand treffend Ausdruck verliehen. Die Not des Kleinbauern in Böotien, dem sein Recht nicht gegeben wird, spie­gelt sich in dem Bild von den ‚geschenkefressenden Königen’ ([dorofágoi basi­lées])[60]): es sind die adligen Richter [basileús] ist hier Standesbezeichnung), die das Recht des kleinen Mannes beugen, der sich nur auf die Rache des Zeus berufen kann“.

Dies zeigt uns, dass es in Griechenland/Attika wie später in Rom in der je­wei­li­gen Frühzeit eine vergleichbare – wenn auch nicht idente – (Rechts)Entwicklung gab, die hier wie dort zu schweren gesellschaftlichen Missständen geführt hatte, die durch erzwungene Akte der Gesetzgebung (einerseits Drakon und Solon  andrer­seits das Zwölf-Tafel-Gesetz) abgestellt wurde, was aber in beiden Fällen nur zum Teil gelungen ist. – Dass die älteren griechischen Erfahrungen zur Bewältigung von Roms Klassengegensätzen zur Zeit der Zwölf- Tafelgesetzgebung herangezogen wur­den, wird etwa von E. Weiss ausdrücklich erwähnt.

Für unsere Zwecke von Interesse ist dabei auch der Umstand, dass diese Amt­sin­haber unter anderem über Einzel-Entscheidungs-Kompetenzen verfügten, die nicht unbedeutend waren und für privatrechtliche Belange lange Zeit mehr Gewicht be­saßen, als die der großen Gerichtshöfe: Areopag, Eliaia und später die demo­krati­schen Gerichtshöfe.

Nach R. J. Bonner/G. Smith[61]) waren die Thesmotheten vornehmlich mit Krimi­nal­fällen befasst. Zivilklagen kamen vornehmlich vor die „Vierzig [Richter]“ und die „Introducers“ [eisagogeís][62]). – Im Rahmen der juristischen Professionalisierung in Griechenland darf daher nicht auf die im Laufe der Jahrhunderte immer besser ausgebildete Richterschaft[63]) vergessen werden, was auch für die Volksrichter oder Dikasten gilt[64]).

 

  1. Griechische (Kautelar)Jurisprudenz

Die nachhaltige Qualität der griechischen Justiz und Rechtspraxis zeigt sich auch daran, dass auch nach dem Verlust der politischen Freiheit der Griechen und schließlich der Ausdehnung des römischen Imperiums in den Ostprovinzen – insbe­son­dere in Ägypten und Syrien/Asien – noch eine griechische Jurisprudenz exi­stier­te, die immerhin die Qualität besaß, zu römischem Reichsrecht zu werden oder grie­chisch-hellenistische Regelungen zu provinziellem Reichsrecht zu machen, das auch für die Römer in den Provinzen galt[65]).

  1. Taubenschlag verwendet in diesem Kontext einen Begriff Eugen Ehrlichs, der vom ”lebenden Recht“ gesprochen hatte, das im Gegensatz zum offiziellen Ge­setz­esrecht oder law in the books steht – und wirklich gilt. Hier soll die Unter­schei­dung, das in den Provinzen gelebte griechische Verkehrsrecht im Gegensatz zum for­mal geltenden römischen Reichsrecht charakterisieren. Taubenschlag nennt beis­piel­sweise ein Edikt Mark Aurels, wonach undankbare Söhne nicht ganz, sondern nur bis zur Höhe von drei Vierteln des väterlichen Vermögens enterbt werden konn­ten. Kaiserliche Konstitutionen sollen auch die reine Nachlasshaftung des helleni­sti­schen Rechts zum provinziellen Reichsrecht erhoben haben. Eine ähnliche Vermu­tung besteht für die longi temporis praescriptio die „bekanntlich auf hellenistische Vor­bilder zurückgeführt wird“. – Taubenschlag weist auch darauf hin, dass das „Rechtsleben der Römer in den Provinzen im Laufe der ersten drei Jahrhunderte n. Chr. zum großen Teil mit volksrechtlichen Elementen durchdrungen wurde“ und stützt damit die Annahme von L. Mitteis, der in seinem berühmten Werk „Reichs­recht und Volksrecht“ (1891) dieses Wissen erstmals aufbereitet hatte.

Taubenschlag bringt auch eine Einfluss- und Rezeptionsübersicht zum: Skla­ven­­recht[66]), zur patria potestas[67]), zum Eherecht[68]), zum Vormundschafts-[69]) und Sa­chenrecht[70]) (zB Eigentum auf Zeit, Stockwerkeigentum, Näherecht von Mitei­gen­tümern, Liegenschaften werden verbüchert, Vorformen der Aufsandung und Unbe­denklichkeitsbescheinigung ua) und Obligationenrecht[71]) (zB Schriftlichkeit vieler Rechtsgeschäfte, deposita irregularia; der Kauf ist Barkauf, wobei die ge­kauf­te Sache an die Stelle des Preises tritt und der Verkäufer das Eigentum an derselben bis zur Bezahlung behält – eine Vorform des Eigentumsvorbehalts); unterschieden wird auch schon zwischen bloß obligatorischer Wirkung und dinglicher Drittwir­kung, zur Sicherung der Verträge wird eine Fiskalmult verwendet. – Zum Erbrecht wird ausgeführt:

„Einen ähnlichen volksrechtlichen Einschlag weist das Erbrecht auf. Das Te­sta­ment erhält einen unrömischen Bestandteil in der Gestalt des Testaments­volls­tre­ckers“, „Erbverträge sind wenigstens so häufig wie Testamente und sie erscheinen bald als pacta mutuae successionis, wo sich zwei Personen gegenseitig für den Fall ihres Vorversterbens zu Erben einsetzen, bald als einfache Verträge, wodurch eine Person sich der anderen verpflichtet, ihr die Erbschaft zu überlassen, bald endlich im Anschluss an die Eheschließung als s.g. συγγραφοδιαθήκαι[72]). Die gesetzliche Erbfolgeordnung gründet sich auf das Parentelensystem; die nächsten Erben maßen sich ein Beispruchsrecht bei. Für den Erwerb der Erbschaft seitens des heres extra­neus wird die gerichtliche Einweisung in den Erbschaftsbesitz für notwendig erach­tet. Als Folge des Erschaftserwerbes tritt die Haftung mit dem Nachlassvermögen ein; wegen Nachlassverbindlichkeiten werden neben den Erben sowohl Einzel­be­dach­te wie auch einzelne Erbschaftsschuldner in Anspruch genommen“ ua.

Gegen diese im Fluss befindliche „weitgreifende Hellenisierung“ des römi­schen Rechts zog zu Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. mit aller Wucht Kaiser Diok­le­tian (284 n. Chr. Thronbesteigung, 305 freiwillige Abdankung) zu Felde:

„Er sucht durch Neubelebung klassischer Traditionen jenen Prozess rückgängig zu machen“[73]).

„Dies führt zu einem seltsamen Rechtsdualismus und zu Mischformen, die aus einer Verbindung von reichsrechtlichen und volksrechtlichen Elementen beste­hen. Kaiser Konstantin [~ 280-337 n. Chr.] tritt nun den Rückzug an. Er greift wie­de­rum auf die ältere Praxis, die trotz Diokletian ihre Lebenskraft nicht eingebüßt hat, zurück, und erhebt eine Reihe von volksrechtlichen Institutionen zu einem so­wohl für den Osten, als auch für den Westen geltendem Reichsrecht“.

Konstantins Nachfolger gehen denselben Weg. Denn die griechische Rechts­pra­xis – oder wie immer man sie nennen will – lässt sich nicht verdrängen und setzt sich in der östlichen Reichshälfte letztlich weithin durch, was für ihre Lebensnähe und Qualität spricht. Nicht zuletzt deshalb wird sie von Diokletians Nachfolgern – insbesondere ab Konstantin – zur Kenntnis genommen. Das gilt auch für Justinian (*482, Kaiser von 527-565 n. Chr.), der weitere volksrechtliche Institutionen in das Reichsrecht aufnimmt; Beispiele bei R. Taubenschlag.

Hier finden sich auch mutterrechtliche griechische Einflüsse – etwa das Eigen­tum des Kindes an den bona materna (dem Vater steht nur ein Fruchtgenuss zu) oder die mütterliche Gewalt/[metrikè exousía]. Das testamentum publicum und das testamentum reciprocum inter coniuges werden zu reichsrechtlichen Einrich­tungen.

Auf die Bedeutung der griechischen Rechtspraxis als Vorbedingung für das Ent­stehen einer griechischen Jurisprudenz und schließlich einer griechischen Recht­swis­sen­schaft wurde bereits hingewiesen. – In der Folge sollen längst erlangte Ein­sich­ten, die das griechische Archiv-, Urkunden-, Register- und Notariatswesen be­tref­fen, kurz skizziert und dadurch in Erinnerung gerufen werden. L. Mitteis[74]) und E. Weiss[75]) haben dazu wichtige und bis heute grundlegende Vorarbeiten geleistet, die aber weder von der Alten Geschichte, noch der Rechtsgeschichte und der Rechtsphilosophie hinreichend beachtet wurden und heute nahezu vergessen sind.

Zur griechischen (Kautelar-)Rechtspraxis berichtet L. Mitteis, dass die Grie­chen in das Ägypten der Ptolemäer – parallel zur dort bestehenden ägyptischen Ein­rich­tung der Monographen[76]) – als Urkundspersonen sogenannte Agoranomen be­stell­ten und damit das im Mutterland längst ausgebildete griechische Notariat nach Ägypten bringen. Diesen Agoranomen wurde damals auch die Führung von (im grie­chischen Mutterland entwickelten) Archiven übertragen, wo Privaturkunden hin­ter­legt werden konnten. Parallel und in engem Zusammenhang mit dem Archiv­we­sen hatte sich auch das Notariatswesen schon im alten Griechenland entwickelt (was nicht ausschließt, dass diese Rechtseinrichtungen insbesondere im 7. Jahrhun­dert v. Chr. und allenfalls noch danach aus dem Alten Orient übernommen wurden):

„Aus den alten Gerichtsmerkern werden die [grammateìs, sc Schreiber][77]) der Richter, welche die Prozessverhandlungen zu Protocoll nehmen; … Die Städte ha­ben ihre Rathschreiber, welche freilich, wie ihre deutschen Collegen im Mitte­lal­ter, bald zu wichtigen Persönlichkeiten aufrücken und die Staatsacten unter­schrei­ben. Die Tempel, deren finanzielle Gebahrung bekanntlich eine sehr umfangreiche war, haben einen Kämmerer, der ihre Urkunden stilisiert und verwahrt. Am wich­tig­sten wurden jedoch die städtischen Archive[78]). (Hervorhebungen von mir)

Und L. Mitteis führt ebendort weiteres aus:

„Wie […] erwähnt, besitzt jede Stadt ein Archiv, [archeíon, chreophülákion], auch [tethmo- oder rhetrophülákion] genannt, welches, wie Aristoteles hervorhebt und aus zahlreichen sonstigen Mittheilungen zu entnehmen ist, vor Allem der Auf­bewahrung der Urkunden über Rechtsgeschäfte zu dienen hat“.

Die griechischen Archivbeamten nehmen aber immer mehr auch Rechts­ge­schäf­te und Verträge sowie Klagen zu Protokoll und Grundkäufe, Mitgift­be­stellun­gen und Freilassungen von Sklaven finden häufig im Stadtarchiv statt:

„Demnach sind schon in den letzten Jahrhunderten der griechischen Selbstän­dig­keit die städtischen Behörden überall mit notariellen Functionen betraut. Schon um diese Zeit hat sich unsere Einrichtung bis auf Sardinien und Afrika erstreckt, wie das erste karthagische Bündnis darthut, welches feststellt, dass im libysch-sar­di­nischen Gebiet die Geschäfte der Zwischenhändler nur unter Zuzie­hung eines Notars giltig geschlossen werden können“[79]).

Dem öffentlichen Notariat stellten die Griechen in ihrer Entwicklung private Urkundspersonen gegenüber, da die archivalische Beurkundung für den Handels­ver­kehr wohl zu schwerfällig gewesen wäre[80]):

„Die Geschichte der Beurkundung hat bei den Römern einen ganz anderen Gang genommen, als bei den Griechen. Während bei diesen der älteste Urkunds­zweck in der Sicherheit und Publicität der Rechtsgeschäfte gegeben ist, dienen die römischen Urkundsverfasser vorwiegend der juristischen Correctheit und Fehlerlo­si­gkeit des Actes. Oeffentliche Beurkundung, Merker, Archive sind der älteren rö­mi­schen Zeit gänzlich fremd; man wird mit Fug vermuthen dürfen, dass die Römer diese Einrichtung erst bei den Griechen in Unteritalien, Sicilien und Afrika kennen gelernt haben. Seit dem ersten karthagischen Bündnis müssen die Römer in ‚Libyen und Sardinien’ [Polybios III 22] immer vor öffentlichen Notaren contrahieren; es scheint aber noch lange gebraucht zu haben, bis diese Einrichtung in Rom und den italischen Städten heimisch wurde. Erst in der Kaiserzeit begegnet uns das ius ge­sto­rum der italischen Municipialmagistrate, welches wahrscheinlich die Frucht einer längeren, vielleicht durch einzelne Gesetze beeinflussten Entwicklung dar­stellt. Dagegen ist die Sitte, bei Rechtsgeschäften einen rechtskundigen Schreiber zuzuziehen, bei den Römern sehr alt“[81]).

Diesen privaten Urkundspersonen muss wie den Archivbeamten und Ban­kiers/ Trapezitai[82]) ein hoher Grad von Sachverstand und Rechtskenntnissen bescheinigt werden. Ihr Aufgabenbereich war die vorsorgliche Gestaltung und Weiterbildung von Rechtsakten, Rechtsgeschäften und Verträgen, mithin die Kaute­larjuris­pru­denz. – Sie waren hauptberufliche Juristen im Sinne von F. Schulz[83]).

Hier von mangelnder rechtspraktischer Professionalisierung zu sprechen, ginge an den Rechts- und Wirtschaftstatsachen Griechenlands vorbei. Das zeigt uns, auf welch’ schwachen Beinen die Ansicht ruht, dem alten Griechenland habe es an spe­zi­fischen Rechtsberufen und einer jurisprudentiellen Professionalisierung und in deren Folge an einer entwickelten Jurisprudenz gefehlt. – Eine rechtliche „Theorie“ oder Rechtswissenschaft in unserem modernen Sinn hätte der griechischen Praxis diese Aufgaben zunächst gar nicht abnehmen können; und wir dürfen nicht verges­sen, dass auch die römischen Vorklassiker meist keine „reinen“ Theoretiker waren. Die Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen setzt zudem eine angemessen hohe Entwicklung allgemeiner wissenschaftlicher Standards und Methoden voraus, was in Griechenland erst um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. anzunehmen ist. Ist dieser als conditio sine qua non zu betrachtende Standard einmal erreicht, entwi­ckeln sich aus dem Schosse der Philosophie laufend neue wissenschaftliche Diszi­pli­nen. So war das bei der „Rhetorik“, der „Ethik“, der „Politik“ und in der Folge auch bei der „Rechtswissenschaft“, die – von Aristoteles noch als pars pro toto mit „Kunst der Gesetzgebung“ bezeichnet – zusammen mit der „Ethik“ eine wissen­schaft­liche Teildisziplin der aristotelischen „Wissenschaft von der Politik“ dar­stellt[84]).

 

  1. Bedarf nach einer Rechtswissenschaft?

Ein neuer gesellschaftlicher Bedarf nach einer Rechtswissenschaft wurde auch dadurch gefördert, als nach 338 v. Chr. die neue, ganz anders strukturierte make­do­ni­sche (Flächen)Staatlichkeit die demokratische (Polis)Organisation der griechi­schen Justiz – auch die Athens – beseitigt hatte und dies den Einsatz rechtskundiger Personen verschiedener Art und in großer Zahl erforderte. Das gilt in der Folge auch für die Diadochenreiche der Nach-Alexander-Ära: das Antigoniden-, Seleu­ki­den- und Attaliden- sowie das Ptolemäerreich in Ägypten. Eine qualifizierte Aus­bil­dung konnten offenbar aber nur die vorhandenen großen Philosophen- und Rhe­to­rik­schulen bieten. Das gilt insbesondere für die Akademie Platons, die Rheto­rik­schu­le des Isokrates und ab der Mitte der 30-iger –Jahre des 4. Jahrhunderts v. Chr. auch den aristotelisch-theophrastischen Peripatos; Gründung des Lykeions in Athen: 338/335 v. Chr. Die guten Beziehungen des Aristoteles zum makedonischen Hof wa­ren dabei gewiss förderlich[85]). Eine wichtige Rolle beim Entstehen einer griechi­schen Rechtswissenschaft spielte danach neben anderen Faktoren der didaktisch-aus­bildungspolitische Aspekt, der sich nach 338 v. Chr. verstärkte.

Im 5. Jahrhundert v. Chr. hätte sich für Athen und Griechenland (von den politi­schen Rahmenbedingungen aus betrachtet) schon einmal die gesellschaftliche Mög­lichkeit geboten, eine rechtswissenschaftlich-didaktische Ausbildung zu schaffen, als Athen unter Perikles – bedingt durch seine neue Großmachtstellung und Flotten­po­litik im Anschluss an die Perserkriege – seine außenpolitische Orientierung än­der­te und dafür administrativ und rechtlich geschultes Personal in größerer Zahl be­nötigte. Da aber damals weder die forensische Rhetorik und die Sophistik, noch die Philosophie hinreichend entwickelt waren und auch noch keine (großen) Philo­so­phenschulen bestanden, sprangen die forensischen Rhetoren und bald auch die So­phisten partiell ein. Dabei handelte es sich aber bloß um eine Notlösung, die nicht von Dauer war. Der folgende Peloponnesische Krieg wirkte insgesamt diesbe­zü­glich nicht förderlich. – In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. hat aber das didaktisch-schulische Element in allen diesen Bereichen (Schulen, Lehr- und Handbücher) stark an Boden gewonnen. A. Dihle[86]) berichtet, dass in dieser Zeit eine „Flut der Lehrbücher“ zu registrieren sei. Man geht wohl nicht fehl, darunter auch solche über forensische Rhetorik und das darin mittlerweile an Bedeutung gewin­nen­de Rechtswesen zu vermuten. Das erforderliche Ausbildungsniveau wurde erst durch die Verbindung von Rhetorik und Philosophie erreicht, was erstmals in Grie­chenland in der Schule des Isokrates und bald darauf in Platons Akademie gelang.

Ähnlich waren die politischen Rahmenbedingungen bei Neubeginn der Demo­kra­tie nach dem Ende des verheerenden Peloponnesischen Krieges (403/2 v. Chr.), der ebenfalls für einen rechtlichen Entwicklungsschub (wenngleich vornehmlich im Bereich des Staats- und Verfassungsrechts: Nomothesie-Verfahren etc) in Grie­chen­land/Athen gesorgt hatte[87]). – Aber auch in dieser historischen Entwick­lungs­phase fehlte vor allem noch die philosophisch-wissenschaftliche Basis[88]).

Dazu kommt, dass nach weitverbreiteter Auffassung die Existenz einer stabilen und souveränen politischen Macht – wie später beispielsweise in der Zeit des rö­mi­schen Prinzipats – ebenso eine Voraussetzung für das Entstehen einer selbständigen Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz zu sein scheint, wie das Vorhandensein eines Kreises anerkannter und schutzwürdiger Privatrechte. Während letzteres im alten Griechenland seit Solon durchaus vorlag[89]), fehlte es vor der Makedonenherrschaft meist am Vorliegen der ersten Voraussetzung[90]).

 

VII. Mnemones und Trapezitai – Urkunden- und Archivwesen

Doch zurück zu den Rechtsberufen: E. Weiss[91]) folgt weithin den bedeutenden Forschungsergebnissen von L. Mitteis („Reichsrecht und Volksrecht“), führt diese aber auch weiter. Im Hinblick auf die Bedeutung und Entwicklung des griechischen Archivwesens und des Notariats erinnert auch er zunächst an die Vorläufer des hochent­wickelten griechischen Archiv- und Urkundenwesens, die Mnemónes/Ge­dächt­nismänner/Merker, die bei der Veräusserung von Liegenschaften ebenso mit­wirk­ten, wie sie bei Liegenschaftsstreitigkeiten vom Gericht als Auskunftspersonen beigezogen wurden[92]). Mehrfach bezeugt sind ihre Funktionen nach Weiss aber auch bei Scheidungen und Adoptionen, unter anderem in Halikarnass und Gor­tyn[93]). Als weitere Vorläufer des griechischen Archivwesens nennt E. Weiss[94]) die privaten Urkundenverwahrer [syngraphophýlax, meséngyos] und die [Trapezí­tai]/ Ban­kiers[95]), die aber bereits den Gebrauch der Schrift voraussetzen, was in Grie­chen­land im Laufe der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. anzunehmen ist; vgl Dreros/Kreta[96]). Hinterlegt werden insbesondere Schuldscheine und Testamente, zu­nächst bei Privaten[97]) vornehmlich bei einem der Testamentszeugen.

Weitere wichtige Zwischenschritte betreffen die Mitgliederverzeichnisse der Phratrien/Bruderschaften (alten Geschlechtsverbänden als Untergliederungen der Phylen) und Phylen sowie anderen Genossenschaften des öffentlichen Rechts, zu­mal die Abstammung in Griechenland für die privatrechtliche und politische Stel­lung von größter Bedeutung war[98]). In der Folge werden auch Eheschließungen von den Gemeinden beurkundet und Ehescheidungs- und andere Urkunden in den ent­stan­denen städtischen Archiven hinterlegt. – Das Matrikelwesen wird spätestens in hellenistischer Zeit verstaatlicht.

Unterstützt wurde diese Entwicklung durch das Zurückdrängen und die Auf­lö­sung der alten Gentilverbände und „überhaupt die Vertiefung der staatlichen Recht­fürsorge[99]). Die Tätigkeit der Archive umfasst häufig auch die Vornahme, also schon den Abschluss von Rechtsgeschäften "[dia archeíou], also durch die Archiv­be­hörde/-beamten“. Daraus resultieren öffentliche Urkunden, wie später die der (Notar-)Agoranomen in Ägypten. Für Aristoteles[100]) stellt sich der Archivzwang bereits als „allgemeine Regel“ dar[101]). – Archivaufzeichnungen sind bereits als öf­fent­liche Urkunden nur durch einen Strafprozess zu entkräften.

Nicht überall war die Zuständigkeit der Archive dieselbe. Verzeichnet wurden aber Klagen und Urteile ebenso wie wichtige Rechtsgeschäfte[102]). Auch Streitsch­lichtungen erfolgen unter der Mitwirkung von Archiven[103]). Die Zuständigkeit der öffentlichen Archive umfasste demnach sowohl Akte des öffentlichen wie des pri­va­ten Rechts. So wird etwa in Kleinasien auch der Erwerb von Gräbern verzeich­net[104]). Offenbar existieren in diesem Kontext auch Schuldenregister und Freilas­sungs­listen[105]). Aus Kos sind Adoptionen unter Mitwirkung von Archiven bekannt, von anderen Inseln Mitgiftregister[106]). Auch Stiftungen scheinen durch die Archiv­be­hörden errichtet und Pfandrechte[107]) begründet sowie Pachtverträge abgeschlos­sen worden zu sein[108]). Aus Samos ist eine Art Staatsschuldbuch nachgewiesen[109]).

  1. Weiss vermutet, dass die Mehrzahl der griechischen Gemeinden wenigstens für einzelne Arten von privatrechtlichen Geschäften Archive besaßen, mag auch die Überlieferung lückenhaft sein. – Das setzt voraus, dass diese Rechtsgeschäfte be­reits voneinander unterschieden wurden! Es ist seines Erachtens nicht undenkbar, "dass die Sitte, Urkunden öffentlich zu verwahren oder gar vor der Obrigkeit abzu­fas­sen, sich an einzelnen Rechtstypen, etwa Liegenschaftsgeschäften oder Darlehen entwickelt hat. Aber schon die Quellen zeigen eine allmähliche Erweiterung des Geschäftskreises der Archive. Der Ausdruck [chreophylákion], der ursprünglich nur das Schuldamt bezeichnet haben kann, begegnet auch bei gerichtlichen Akten, Liegenschaftsgeschäften, Adoptionen und Freilassungen; in diesen Zusammenhang gehört es, dass der Rechtshilfevertrag zwischen Lato und Olus dort, vor dem Schul­damt, Rechtsgeschäfte aller Art abschließen lässt. Diese Umstände deuten wohl auf einen vielfach bedeutend weiteren Tätigkeitskreis unserer Einrichtung hin, als ihn die dürftige Überlieferung zu erkennen gestattet. Auch Aristoteles berichtet von einer Teilung der Archivbehörde, indem jedem der mehreren Amtsträger ein beson­de­rer Geschäftskreis, vielleicht eine bestimmte Gattung von Rechtsgeschäften, die er zugleich allgemein dort beurkunden lässt, zugewiesen wird; darin liegt jedenfalls, dass das Archiv nicht bloß für Käufe oder bloß für Darlehen und so fort bestimmt war“[110]). (Hervorhebung von mir)

Unterschieden werden muss ferner bereits „zwischen der Ausfertigung der Urkunde vor dem Archiv (öffentliche Urkunde, [demósios chrematismós]) und ihrer nachträglichen Registrierung“. – Damit nimmt die griechische Rechtsentwicklung die spätere Unterscheidung zwischen Notariatsakt und gerichtlicher oder nota­riel­ler Beglaubigung wenigstens teilweise vorweg.

Im griechischen Ägypten war das Beurkundungswesen ein Teil der allgemeinen Staatsverwaltung:

„Nur mit diesem Vorbehalt kann auch hier von einem Notariat gesprochen wer­den, keineswegs handelt es sich hier um private Urkundenverfasser, wie die spä­te­ren römischen Tabellionen“[111]). – "Nach dem Gesagten ergäbe die Geschäfts­ver­tei­lung [der allgemeinen Staatsarchive: bibliothéke demosìon lógon] somit sachlich eine Trennung von Notariat und Archiv, so dass beim Notar nur ein Amtstagebuch mit kurzen Angaben [anagraphè ton symboleíon] zurückblieb“.

Neben diesen Urkundsbehörden betätigen sich die Banken/trápezai einschlägig und sind daher den gleichen Ordnungsvorschriften unterworfen[112]). – E. Weiss[113]) merkt dazu an:

„Hiebei bildet sich ein besonderer Urkundenstil heraus, indem sich die soge­nann­te selbständige [diagraphé] entwickelt, das heißt die Mitteilung der Bank über die Anweisung einer bestimmten Summe auf Grund etwa der Gewährung eines Dar­lehens durch einen Kunden der Bank oder eines von ihm eingegangenen Kaufs nimmt den Vertragsinhalt gleich in sich auf … Rechtsgeschichtlich beruht dies alles auf der althergebrachten Verwahrung von Urkunden durch die Banken. Beide Arten von Urkunden gelten als δημόσιος χρηματισμός, das heißt als öffentliche Priva­tur­kunde“[114]).

 

VIII. Hoher Entwicklungsstand griechischen Rechtsdenkens

All das können schwerlich rechtsunkundige, nicht ausgebildete Personen ge­macht haben. Deshalb ist anzunehmen, dass – unseren Richtern, Notaren, Rechtsan­wälten und Rechtspflegern vergleichbar – die griechischen Archivbeamten, Notare und Bankiers, die forensischen Rhetoren und Logographen usw. bereits beachtliche und auch schon spezifische Rechtskenntnisse besessen haben müssen. – Für diese verantwortlichen und staatlich, privat wie wirtschaftlich bedeutenden Tätigkeiten muss­te auch eine Form der rechtlichen Ausbildung und des Unterrichts existiert ha­ben. Dass wir aus dieser Zeit aber über keine Nachrichten von interner oder exter­ner Schulung oder gar einem organisierten (ausschließlichen) Rechtsunterricht ver­fü­gen, sollte nicht verwundern, wissen wir doch auch von der Rechtsschule Roms im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. kaum etwas[115]). Am wahrscheinlichsten ist es, dass für die verschiedenen Rechtsberufe (Archivare, Bankiers, Notare, Logographen etc) wie nachweislich bei den Rhetoren eine spezifische, vielleicht aber auch nur eine interne Nachwuchspflege existierte[116]). Dazu kommt, und das wissen wir, dass sich die Rhetorenschulen seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. immer mehr um juristische Inhalte im Rahmen der von ihnen gewährten Ausbildungen kümmer­ten. Und ab dem Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. entstehen mit der Rhetorik­schu­le des Isokrates, der Akademie Platons und – etwa 50 Jahre später – dem Peripatos die Vorläufer unserer hohen Schulen, deren Unterrichtsgegenstände immer mehr den Bedarf der Rechts- und Verwaltungspraxis berücksichtigen.

Dazu kommt: Diese juristischen Berufe waren nicht mehr nur vorübergehend mit Rechtsfragen befasst, sondern bereits kontinuierlich als Juristen tätig. Sie stell­ten somit bereits einen eigenen rechtlichen Berufsstand dar, der neben Anwälten/ Lo­gographen und forensischen Rhetoren, auch noch eine ganze Reihe weiterer Berufe umfasste. Es handelte sich dabei um ganz unterschiedliche Gruppen griechi­scher Juristen. – Ihre Aufgabe war vielfach eine rechtspraktisch-kautelarjuristische, die auch beratende und rechtsfortbildende sowie gewisse systematisierende Ele­men­te (Zuständigkeit!) enthalten haben muss. Man denke nur an die von F. Prings­heim in seinem Werk "The Greek Law of Sale" (1950) eingehend beschriebene Umformung des Barkaufs zu einem allen Anforderungen des hochentwickelten grie­chischen Handels entsprechenden „Kreditkauf“. Und dies häufig ohne Ände­rung der alten Gesetze[117]).

Insgesamt kann von einem beachtlichen Spektrum von Rechtsberufen und ei­nem sehr hohen Entwicklungsstand des Rechtsdenkens im alten Griechenland ges­prochen werden. Diese griechischen Rechtsberufe haben offenbar bis zur „recht­swis­senschaftlichen Wende“ im Laufe der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. und insbesondere nach 338 v. Chr. zur Zufriedenheit aller betroffenen Kreise die Aufgabe der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung und somit nicht nur kau­te­lar­juristisch-praktische, sondern auch bereits wissenschaftlich-theoretische Funk­tio­nen für die Rechtspraxis und das gesamte Rechtswesen im Sinne einer hoch entwickelten Jurisprudenz erfüllt. Das hat sich auch nach der makedonischen Mach­tübernahme nicht entscheidend geändert. Mag auch nach diesen auch justiz-organi­sa­torisch einschneidenden Ereignissen, die schließlich auch zur endgültigen Entste­hung einer griechischen Rechtswissenschaft beitrugen[118]), die rechtliche Ausbil­dung immer mehr von den großen Philosophen- und Rhetorenschulen übernommen und die Bildung einer eigenen Anwaltschaft forciert worden sein[119]). – Offen muss einstweilen bleiben, ob sich griechische Rechtswissenschaft nicht auch ohne make­do­nischen Anstoß von außen auch autonom entwickelt hätte. Ich möchte diese Fra­ge vorläufig vorsichtig bejahen, zumal ganz wesentliche Vorarbeiten zu dieser Ent­wick­lung bereits vor Chaironeia erfolgt sind; hier ist vornehmlich auf die „Rheto­rik“, die „Nikomachische Ethik“ sowie Teile der „Politik“ des Aristoteles und in der Folge das wichtige juristische Schaffen Theophrasts und des Demetrios von Pha­le­ron hinzuweisen.

 

  1. „Graeca non leguntur“?

Die bislang einseitige römischrechtliche Einschätzung der europäischen Recht­sent­wicklung, die nahezu alles Griechische (und selbstverständlich erst recht alles was darüber hinausweist) ausblendet oder doch sehr vernachlässigt, hält bis heute an[120]). – Das „Graeca non leguntur“[121]) weist insofern über die Glossatoren und den Antigraecismus F. C. v. Savignys hinaus noch heute aktuelle Bezüge auf. – Die Rechtsgeschichte und das gesamte Rechtsdenken wären gut beraten, ihre Selbst­(er)­kenntnis und Existenzberechtigung durch ein Anreichern um die fundamentalen und paradigmatisch abgelaufenen griechischen Rechtsentwicklungen abzusichern und dadurch das Lehrangebot attraktiver zu gestalten. Bloße Dogmatik wirkt auf Dauer, auf Lehrer wie Schüler, ermüdend. Dabei gilt es daran zu erinnern, dass die wahre Bedeutung der Rechtsgeschichte im Futurum liegt (Ernst Bloch).

Auf dem Weg zu einem auch rechtlich geeinten Europa wäre ein Rückbesinnen auf alle historisch-rechtlichen Wurzeln unseres Kontinents, also nicht nur auf rö­mi­sche, sondern auch auf griechische und da und dort sogar auf vor-griechische auße­reuropäische Rechts-Einflüsse und -Entwicklungen, durchaus förderlich. Das würde das Entstehen von Hybris (auch im Bereich des europäischen Rechtsdenkens), ge­gen die schon die Griechen grundsätzlich und heftig angekämpft haben, wenn schon nicht verhindern, so doch vielleicht mindern und künftige europäische Geset­zes­werke auf eine ehrlichere historische Basis stellen, als dies eine bloß romanistisch-verengte Sichtweise vermag.


[1]. Der Rudolf Welser gewidmete Festschriftbeitrag ist Kapitel 6 meines Buches: „Graeca non le­gun­tur“? – Zum Ursprung des europäischen Rechtsdenkens im alten Griechenland auszugsweise ent­nom­men, das neben der Professionalisierung unter anderem auch danach fragt, ob es in Griechenland schon eine Rechtswissenschaft gegeben hat. Kapitel 6 enthält neben dem hier teilweise abgedruckten Teil (P 1) weitere Punkte, nämlich: 2. Gab es eine griechische Rechtswissenschaft?, 3. Historische Rah­men­bedingungen für das Entstehen einer griechischen Jurisprudenz und Rechtswissenschaft, 4. Der Bei­t­rag der griechischen Rechts-Theorie und Rechts-Praxis zum Entstehen einer griechischen Jurispru­denz, 5. Die Bedeutung der klassischen griechischen Philosophie für das griechische und römische Rechts­denken – Beispiele, 6. Verdrängung des Ursprungs der europäischen Rechtswissenschaft? – Der Kon­text des Kapitels 6 im Zusammenhang des Buches ist folgender: „Prolegomena“, Kapitel 1 (Ein­lei­tung), Kapitel 2 (Solon), Kapitel 3 (Aischylos als Rechtsdenker: Die „Eumeniden“), Kapitel 4 (Der Me­lier­dialog des Thukydides – Zum Spannungsverhältnis von Recht und Macht), Kapitel 5 (Euripides und das Naturrechtsdenken – Naturrecht versus Rechtspositivismus?), Kapitel 6 (siehe oben), Kapitel 7 (Pla­tons „Nomoi“ und „Politeia“ als rechtliche Grundlagentexte), Kapitel 8 (Aristoteles oder: Die „Poli­tik“ als Wissenschaft – „Ethik“ und „wissenschaftliches Rechtsdenken“ als Teile der Leitdisziplin „Po­li­tik“), Kapitel 9 (Epilog – Zur Bedeutung öffentlicher Rechtsmoral). – Das bereits umfangreiche Ma­nu­skript soll nächstes Jahr (2005) veröffentlicht werden.

[2]. Darauf gehe ich in meinem Buch näher ein, zumal diese griechischen (Geistes)Schöpfungen bis heu­te ihre Bedeutung behalten haben.

[3]. Die Rezeptionsgeschichte der sogenannten postmortalen Persönlichkeitsrechte, die erstmals von Solon gesetzlich geregelt wurden, liest sich wie ein Krimi. Die Regelung gelangte über Plutarch, Schil­ler und Kant in schließlich latinisierter Form – de mortuis nihil nisi bene – in die Moderne. Bereits So­lon hatte deren Durchsetzung mittels einer Popularklage effektuiert, was Kant ohne Quellenhinweis über­­nommen hat. Wir haben dieses griechische Niveau bis heute nicht erreicht und unsere Schutzlü­cken wurden kaum noch bemerkt. Vgl dazu den Hinweis in meinem Zivilrecht, Kapitel 4 C III 2: Post­mor­tale Persönlichkeitsrechte (20042).

[4]. Zur Normenkontrolle vgl H. J. Wolff, „Normenkontrolle und Gesetzesbegriff in der attischen De­mokratie (1970).

[5]. Dabei denke ich vor allem an die Sittenwidrigkeit, das Schikane- und Rechtsmissbrauchsverbot so­wie den Grundsatz von Treu und Glauben.

[6]. Ich gehe auch auf diese Fragen in meinem Buch ein; zur Gesetzespräambel vgl nunmehr meine Ausführungen in: juridicum 4/2003 214 ff.

[7]. Auch das wird im Buch eingehend behandelt. – Hier sei wenigstens erwähnt, dass die Entste­hung der europäischen Rechtswissenschaft im antiken Griechenland nicht nur von juristisch-rechtlichen Vo­raussetzungen, sondern auch vom Stand der wissenschaftlich-disziplinären Entwicklung und den ge­sell­schaftlich-politischen Rahmenbedingungen abhängig war. Erst ab der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. lagen diese allgemeinen Rahmenbedingungen für das Entstehen einer eigenen und autonomen Recht­swissenschaft in Griechenland vor. – Eine bedeutende Rolle spielte dabei der Verlust der Freiheit und Autonomie der griechischen Poleis nach der Schlacht bei Chaironeia (338 v. Chr.) und das damit ver­bundene Entstehen eines grossen makedonischen Flächenstaates, der nach weiteren legistischen, admi­nistrativen und personalpolitischen Konsequenzen auch im Bereich von Justiz und Verwaltung ver­langte. Das Entstehen der grossen Philosophen- und Rhetorik-Schulen mit beachtlichen Schü­ler­zah­len in Griechenland im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. (Isokrates, Platons Akademie und der aristo­te­lisch-theophrastische Peripatos) war eine weitere Voraussetzung, um diese neue Situation zu bewäl­ti­gen. Erst um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. hat die griechische Philosophie die allgemeinen Wis­sen­schaftsgrundlagen so weit entwickelt, dass daraus nunmehr Schritt für Schritt neue Wissen­schafts­dis­ziplinen entstehen können; darunter die „Kunst der Gesetzgebung“ als wissenschaftliche Jurispru­denz.

[8]. Die Rhetorik konzentrierte sich auf drei grosse Bereiche: Die politische Rede, die Gerichtsrede und die Festrede. – Einen ersten Überblick verschafft M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einfüh­rung (20035).

[9]. Die Schule des Isokrates, Platons Akademie und dann der Peripatos setzten jedoch unter­schied­li­che Schwerpunkte und vor allem Isokrates und die Akademie standen in einem zum Teil heftigen Wett­bewerb. Auf das weite und interessante Feld der griechischen Rhetorik kann hier nicht eingegan­gen werden. Die Rhetorik, als schließlich eigenständige wissenschafftliche Disziplin, hatte seit ihren nam­­haf­ten Anfängen gegen Ende der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts in Sizilien (im Rahmen des dort ablau­fenden Demokratisierungsprosses) eine stürmische Entwicklung genommen. Bereits 100 Jahre nach ihrer Entstehung weist die Rhetorik eine beachtlich hohe Entwicklung auf. – Es war demnach nicht nur die Sophistik, die sich des Fachs „Rhetorik“ angenommen hatte. Unrichtig ist es, wenn M. Fuhr­­mann, Die antike Rhetorik 43, ausführt, dass sich die Akademie erst im 2. Jahrhundert v. Chr. der Rhe­torik geöffnet habe. War doch kein geringerer als der junge Aristoteles Rhetoriklehrer an der Aka­de­­mie Platons und Aristoteles selbst hatte um 340 v. Chr. seine „Rhetorik“ geschaffen. Dem Mit­grün­der und wissenschaftlichen Partner des Peripatos, Theophrast, hatte Aristoteles den Namen gegeben: Theo­phrast heisst nämlich nichts anderes als – göttlicher Redner. Und dieser Theophrast hat nicht nur wichtiges zur Fortentwicklung der Rhetorik (Stil und Psychologie/man denke an seine „Charaktere“) bei­getragen, sondern er war zusammen mit Platon und Aristoteles auch einer der Gründerväter der grie­chi­schen Rechtswissenschaft. Von seinem bedeutenden rechtswissenschaftlichen Werk ist be­dauer­li­cher­weise nur wenig durch die Jahrtausende zu uns gelangt.

[10]. F. Schulz, Prinzipien des römischen Rechts 30 f (1934/1954); R. Taubenschlag, Der Einfluss der Provinzialrechte auf das römische Privatrecht, in: Atti del Congresso Internationale di Diritto Ro­ma­no, Bd I 288 f; E. Rabel, Die Stellvertretung in den hellenistischen Rechten und in: Atti del Con­gres­so Internationale di Diritto Romano, Bd I 235 ff (1934).

[11]. H. J. Wolff, Die Grundlagen des griechischen Vertragsrechts, in: E. Berneker (Hg), Zur griech­i­schen Rechtsgeschichte 533 mwH (1968).

[12]. H. J. Wolff, ebendort.

[13]. Auch darauf gehe ich im Buch näher ein, zumal diese Entwicklung äußerst interessant verlau­fen ist und zeigt, wie verfehlt die Einschätzung von H. J. Wolff war, der meinte, das griechische Rechts­den­ken sei über „primitive“ Ansätze nicht hinausgelangt. – Zur Entwicklung vgl schon H. Lewald, Ge­setzeskollisionen in der griechischen und römischen Welt, in: Labeo 5 (1959) 334 ff = in: E. Berneker (Hg), Zur griechischen Rechtsgeschichte 666 ff (1967). Über weitere Entdeckungen habe ich im Seminar „Privatrechtsphilosophie“ (gemeinsam mit Theo Mayer-Maly und Fritz Raber) im WS 03/04 be­richtet.

[14]. Frühe und interessante Regelungen finden sich in Kolonieverträgen der vorklassichen Ära; vgl etwa den Vertragstext in: Brodersen/Günther/Schmitt, Historische Griechische Inschriften in Über­setz­ung Nr 6: Thera – Koloniegründung in Kyrene/Nordafrika (~ 600 v. Chr.) oder insbesondere eben­dort Nr 30: Koloniegründung der hypoknamidischen Lokrer in Naupaktos (~ 500 v. Chr.). Dieser Kolonie­gründ­ungsvertrag enthält bereits echte, insbesondere erbrechtliche, Kollisionsregeln. Weitere Beispiele fin­den sich in Synoikismos-, Isopolitie- und Rechtsgewährverträgen quer durch die griechische Gesch­ichte; vgl etwa Brodersen/Günther/Schmitt, Historische Griechische Inschriften in Übersetzung Nr 287: Synoikievertrag – Orchomenos (375 v. Chr.) und vor allem auch den Isopolitievertrag zwischen Ephe­sos und Sardes (~ 95 v. Chr.); dazu auch H. Lewald, Gesetzeskollisionen in der griechischen und römi­schen Welt 672 (Anm 13).

[15]. Diese „lex“ stammt zwar aus römischer Zeit, inhaltlich handelt es sich aber um eine schon in klas­sischer griechischer Zeit nachweisbare griechisch-mediterrane Verkehrssitte. Das lehrt uns, dass auch die Griechen Einrichtungen und Anregungen anderer Völker und Kulturen aufgenommen und wei­ter­verarbeitet haben. – Zum Fragenkomplex der „Lex Rhodia“: H. Kreller, Lex Rhodia. Unter­su­chun­gen zur Quellengeschichte des römischen Seerechts, Zeitschrift für das gesamte Handels- und Kon­kurs­recht 85 (1921) 257 ff.

[16]. So stammen beispielsweise wichtige Aussagen des Pythagoras, Platon oder Aristoteles aus dem Osten; etwa die sog Zahlenmystik oder die Stellarreligion aus Persien. Mathematische und astro­no­mische Einflüsse kommen aus dem Zweistromland und last but not least stammen wichtige rechtliche wie andere Einsichten aus Ägypten; so der Monotheismus (Echnaton), der in Griechenland erstmals bei Xenophanes in Erscheinung tritt. Rechtlich hat das hoch entwickelte griechische Register- und Archiv- und Grundbuchswesen wohl auch auswärtige Anregungen verarbeitet. – Die bereits positivistisch-sae­ku­larisierte (Rechts)Stufenbaulehre A. J. Merkls hat sehr alte Vorläufer, die über die Vermittlung Jean Bodins bis Ägypten zurückreichen; vgl E. Voegelin, Die politischen Religionen 31 (1996).

[17]. Vgl etwa die Beiträge von Sch. Allam (Ägypten), H. Neumann (Mesopotamien) und R. Haase (He­thiter) im Sammelband: U. Manthe (Hrsg), Die Rechtkulturen der Antike (2003); allgemein zu Fra­gen der Rezeption aus dem Orient: W. Burkert, Die Griechen und der Orient (2003). Wir wissen heute auch, dass das homerische Vertragsverständnis (neu)-assyrischen Vorbildern folgt; vgl R. Rollinger, Die Verschriftlichung von Normen: Einflüsse und Elemente orientalischer Kulturtechnik in den home­ri­schen Epen, dargestellt am Beispiel des Vertragswesens, in: Rollinger/Ulf (Hg), Griechische Archaik. Inter­ne Entwicklungen – externe Impulse 369 ff (2004).

[18]. Platon, „Nomoi“ VI 767 b. – Auch die römischen Klassiker haben noch griechisches Ge­dan­ken­gut übernommen.

[19]. Ich gehe darauf in meinem Buch in Kapitel II 8 ausführlich ein.

[20]. Auch dazu mehr in meiner größeren Studie. – Vgl dazu auch F. Wieacker, Griechische Wur­zeln des Institutionensystems, SZ/RA 70 (1953) 93 ff.

[21]. Darauf gehe ich in Kapitel II 5 des Buches ein.

[22]. Ich erinnere mich noch in meiner rechtsgeschichtlichen Ausbildung gehört zu haben, dass die öster­reichische Parentelordnung von den Langobarden stamme. Das ist aber offenbar nur die halbe Wahr­heit. Die Langobarden siedelten nämlich im nördlichen Italien in der Nähe des oströmisch-byzan­ti­­nischen Exarchats Ravenna und haben sich offenbar dort vom byzantinisch-griechisch-oströmischen Recht inspirieren lassen. – Mehr gleich im Anschluss.

[23]. Vgl dazu H. F. Hitzig, Zum griechisch-attischen Rechte, SZ/RA 18 (1897) 183.

[24]. Sie ist wiedergegeben bei H. Lewald, Gesetzeskollisionen 682 (Anm 13). Die Übersetzung stammt von Demetrios Pappulias; vgl P. Koschaker, Griechische Rechtsurkunden aus Dura in Meso­po­ta­mien, SZ/RA 51 (1931) 427 ff und 46 (1926) 297 ff.

[25]. Dazu eindrucksvoll H. E. Troje, Europa und griechisches Recht (1971).

[26]. Das „Verfassungsgesetz“ ist abgedruckt, in: Brodersen/Günther/Schmitt, Historische Griechi­sche Inschriften in Übersetzung Nr 2, S 3 (1992). – Vgl dazu auch Anm 96.

[27]. In diesem Sinne auch L. Gernet, Einführung in das Studium des alten griechischen Rechts (1938) und U. E. Paoli, Die Wissenschaft vom attischen Recht und ihre Möglichkeiten (1933). – Schon Ari­stoteles spricht sich in seiner „Rhetorik“ für ein rechtliches Beachten von Schriftstellern und (Rechts)Sprichwörtern aus; vgl G. M. Calhoun, Greek legal science 73 (1944/1977).

Auf der anderen Seite waren griechische Philosophen häufig auch Dichter (zB Xenophanes, Par­me­nides oder Platon und Aristoteles und insbesondere Theophrast waren berühmte Stilisten), so wie sich die Dichter immer wieder politisch äußerten (Aischylos, Euripides oder Aristophanes) und viele der Philosophen und Politiker waren nicht nur gute Redner, sondern auch gute Juristen und Politiker hat­ten philosophische Ambitionen; zB Solon, Perikles, Platon, Aristoteles, Theophrast, Demetrios von Pha­leron ua. – Die griechische Kultur zeichnete sich durch starke geistig-kulturelle Querverbindungen und Multitalente aus, was auch dem Rechtsdenken zugute kam.

[28]. Zur wichtigen Rolle des juristischen Zweigs der forensischen Rhetoren, die, ausgehend von Sizilien, wichtige rechtliche Aufbauarbeit leisteten, gehe ich in meinem Buchs ausführlicher ein. Ihr Wissen wird in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. von den Sophisten übernommen. – Die rhetorische Ausbildung inkludiert neben der klassischen Dichtung immer beachtlichere Rechtskenntnis­se und es kommt nachweislich bereits zu ersten rechtlichen Spezialisierungen; Strafrecht (Antiphon!), Fa­milienrecht etc. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass ab dem Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. im­mer mehr auch die Philosophie zu einer wichtigen Grundlage der Rhetorik wird. – Als nach Chai­ro­neia die griechischen Poleis ihre politische Unabhängigkeit verlieren, geht damit der Rhetorik ein wich­ti­ges Betätigungsfeld verloren. Allein die mittlerweile zur eigenen Wissenschaftsdisziplin herangereifte Rhe­torik kann dies mehr als kompensieren, weil sie idF immer mehr zum bedeutenden Bestandteil des grie­chischen Bildungskanons für die Jugend und nicht nur diese wird. Sowohl die Schule des Isokrates wie die Akademie Platons und der Peripatos (Aristoteles und Theophrast) entwickeln die Disziplin. Für den rechtsrelevanten Teil der forensischen Rhetorik erscheinen wie für andere Bereiche der Rhetorik, Lehr- und Handbücher und weitere Rhetorikschulen entstehen im gesamten mittlerweile riesigen helle­ni­stischen Einzugsbereich der griechischen Kultur. In der Ausbildung werden auch rechtliche Fall­stu­dien geboten und Fallsammlungen angelegt; vgl etwa M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik 43 (20035), des­sen Ausführungen in manchem aber unzutreffend sind. Vor allem die Aussage, dass sich Rhetorik und Philosophie erst im 2. Jahrhundert v. Chr. nahegekommen seien entspricht nicht der Wirklichkeit. Vielmehr gab es bereits seit der Rhetorikschule des Isokrates und Platons Akademie eine Durchdrin­gung der beiden Fächer, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung und Tiefe. Aristoteles lehrte be­reits in Platons Akademie das Fach „Rhetorik“.

[29]. Nach G. M. Calhoun, Greek legal science 32 ff muss das Volk von Athen (in der Zeit von So­lon bis zur makedonischen Machtübernahme) als durchaus rechtskundig und höchst interessiert an Rechts­fragen angesehen werden; vgl dazu den Text von G. M. Calhoun in Anm 32.

[30]. Vgl etwa Aischylos, in dessen „Eumeniden“ sich wichtige Rechtsgrundsätze finden, was nicht so zu verstehen ist, dass sie von Aischylos geschaffen, sondern nur von ihm in seinem dichterischen Werk wiedergegeben wurden. – U. E. Paoli, Die Wissenschaft vom attischen Recht 42 meint dazu: „ … es ist unmöglich, das attische Recht zu erforschen, ohne bei allen Schriftstellern aufmerksam die Pro­ble­me zu verfolgen, welche sich das griechische Rechtsbewusstsein stellte und wie es sich diesen Pro­ble­men gegenüber verhielt. Man kann nicht Lysias [* ~ 445 v. Chr.] und Isaios [~ 420-nach 353 v. Chr.] heranziehen und Euripides und Xenophon beiseite lassen“. – Paoli fährt fort: „Es gibt keine Zivilisa­tion, die ein so umfassendes Studium verlangt wie die griechische und besonders die des V. und IV. Jahr­hunderts. Ihr Verständnis wird sich jedem entziehen, der nur eine ihrer Seiten berücksichtigt“. Pao­li bringt in der Folge interessante Beispiele, die neben Xenophon („Kyropaideia“: Tötung aus irrtümlich für gerecht gehaltenem Grunde) vor allem Euripides („Hippolytos“ und „Elektra“) betreffen.

[31]. Hippodamos (~480-400 v. Chr.) galt als Verfassungsexperte und wurde von Perikles zusam­men mit Protagoras, Empedokles und Herodot eingeladen die Verfassung der gesamthellenischen Kolo­nie Thurioi zu verfassen. Aristoteles setzt sich mit den Vorschlägen des Hippodamos im 8. Kapitel des II. Buchs der „Politik“ (1267b ff) auseinander.

[32]. Greek legal science 33. — Hervorhebungen von mir: „The dominant principle of the Athenian con­stitution, direct participation of all citizens in all functions of government, was consistently followed out in the administration of justice. The best-known illustration of this somewhat unusal way of applying the law is the requirement that a litigant must himself present and argue his case before the court instead of beeing represented by paid professional counsel. But this is only one aspect of a system which obliged the average Athenian continually to perform duties of a legal nature and thus to acquire willy-nilly a considerable practical knowledge of the law. It is not an exaggeration to say that most Athenian citizens throughout their lives were subjected to a continuous process of informal legal education”.

[33]. Ich gehe darauf in der Folge noch ein.

[34]. Dazu mehr im Rahmen der folgenden kurzen Schilderung des Register-, Archiv-, Urkunden- und Notariatswesens, die genuin griechische Entwicklungen darstellen.

[35]. Vgl dazu vor allem die Arbeiten von L. Mitteis und F. Pringsheim.

[36]. Dazu erneut G. M. Calhoun, Greek legal science 38 ff: „Demosthenes, in an interesting passa­ge ... contrasts the ordinary private citizen [idiotés; die griechischen Begriffe wurden der Einfacheit hal­ber übertragen], the ‘layman’ [Laienrichter], with the expert who knows ‘all the laws’. The nature of his di­stinction is important. The difference is one of quantity, not quality. The laws are purposely made sim­­ple, he says, that the layman may not be at a disadvantage as against the expert; the law is not an obscu­re or recondite discipline, requiring exceptional intellectual ability, or tedious induction of neophy­tes by illuminati; almost anyone can master it, but the expert knows more than the layman, he knows ‘all the laws’. ...” Calhoun schildert in der Folge kurz Apollodorus, Demosthenes, Lysias, Isaeus/Isaios (er war der Lehrer des Demosthenes und Spezialist im Eigentums- und Erbrecht), Antiphon (Spezialist für Mor­drecht) und Isokrates: er war ein berühmter Rhetoriklehrer und unter seinen Schülern waren Isaios, Androtion, Hyperides und Lykurg. — Als „less creditable side“ solch praktischen rechtlichen Ler­nens nennt Calhoun neben Winkelschreibern, Anstiftern zu leichtfertiger Klagsführung und Gau­nern, auch das berüchtigte Sykophantenunwesen.

Vgl auch Burckhardt/Ungern-Sternberg (Hg), Große Prozesse im antiken Athen 11 f (2000): „In Athen mußten Ankläger und Angeklagter vor Gericht in eigener Sache, also ohne Anwälte, auftreten. Sie konnten für die Abfassung ihrer Reden freilich die Hilfe anderer in Anspruch nehmen, wofür sich in den sogenannten Logographen ein förmlicher Berufszweig herausgebildet hatte. Eine Vielzahl der uns erhaltenen Reden verdankt ihre Entstehung dieser Praxis, die von den Verfassern nicht nur Sach- und Rechtskunde verlangte, sondern insbesondere auch psychologisches Feingefühl“. Näheres bei G. M. Cal­houn, Greek legal science 44 f. — Forensische Redner waren rechtskundig und oft als Logo­gra­phen/Re­denschreiber tätig; zB Isokrates, Isaios, Demosthenes, Lysias. Männer mit Rechtskenntnissen und judizeller Erfahrung, die zudem die Gabe der Eloquenz besassen, waren als Anwälte/Advokaten (sy­negoroi) gesucht.

[37]. Das ist aber immer wieder geschehen. — Auf das Verständnis von „Rechtswissenschaft“ in der Anti­ke gehe ich im Buch in P 4 des Kapitels 6 ein.

[38]. Europa und griechisches Recht (1971).

[39]. Dazu unten nach Anm 49.

[40]. Darin äußert sich politisches Mißtrauen gegen ein Verfestigen von Macht und Angst eines Rück­falls in eine Alleinherrschat/Tyrannis oder eine Oligarchie des Adels.

[41]. Die Rechtskundigkeit der Eupatriden ist unbestritten. Offenbar hat sich aber die Praxis, dass sich dem Demos wohlgesinnte Aristokraten zur Ämterübernahme bereit fanden erst nach den 80er-Jah­ren des 7. Jahrhunderts v. Chr. entwickelt.

[42]. G. M. Calhoun, Greek legal science 23.

[43]. Bei diesen Paredroi handelte es sich um besonders qualifizierte, wenngleich beamtete Juristen.

[44]. G. M. Calhoun, Greek legal science 38.

[45]. Zu den insgesamt für die griechische Rechtsentwicklung nachteiligen Einflüssen der Aristo­kra­tie, deren Folgen bis zum Verlust der politischen Selbständigkeit der Griechen nachwirken, ins­be­son­de­re G. M. Calhoun, Greek legal science 15 ff.

[46]. Diese Tradition wird in Rom durch die Gracchen (als Volkstribune) fortgesetzt.

[47]. Zum Areopag R. J. Bonner/G. Smith, The administration of justice from Homer to Aristotle I 163 ff.

[48]. Mehr dazu in den anschließenden Ausführungen von D. M. MacDowell.

[49]. R. J. Bonner/G. Smith, aaO 163 f.

[50]. Dazu auch G. Busolt, Griechische Staatskunde II 800 ff (1926).

[51]. Mehr bei G. Busolt, Griechische Staatskunde II 802 f. Die Datierung Busolts weicht von der übli­chen etwas ab. — Vgl dazu auch die Ausführungen bei R. J. Bonner/G. Smith, The administration of justice 87.

[52]. G. Busolt, aaO. — Sperrung im Original, kursiv von mir.

[53]. Geschichte der römischen Rechtswissenschaft 1 ff (1961).

[54]. The Law in classical Athens 24 ff. Gute Darstellungen finden sich auch bei G. M. Calhoun, Greek legal science und R. J. Bonner/G. Smith, The administration of justice from Homer to Aristotle.

[55]. AaO 24 ff.

[56]. Greek legal science 15 ff. – Es gibt heute aber immer gewichtigere Stimmen, die weder eine ei­ge­ne Königszeit, noch eine Epoche der Aristokratie annehmen. Stärker gewichtet wird dafür ins­be­son­de­re im 7. Jahrhundert v. Chr. der Einfluss aus dem alten Orient.

[57]. Griechische Geschichte 109.

[58]. Leben des Theseus 25.

[59]. Zu den Übergängen zwischen heiligem/göttlichem und weltlich-profanem Recht: K. Latte, Hei­liges Recht, der aaO 113 feststellt, dass für die Griechen — anders als in Rom — zu keiner Zeit die „Mög­lichkeit eines Priesterrechtes neben dem staatlichen“ Recht bestanden habe.

[60]. Hesiod, Werke und Tage: Verse 39; 221, 264. — Zum griechischen Begriff ‚basileus’/ba­si­leύV: D. M. MacDowell, The Law in classical Athens 24 ff.

[61]. The administration of justice 88.

[62]. Vgl auch J. H. Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren 85 und 901.

[63]. Dazu R. J. Bonner/G. Smith, The administration of justice 83 ff: vorsolonische Justiz, 149 ff: so­lonische Reformen, 187 ff: Justizreformen des Kleisthenes, 279 ff: justizielle Funktionen der Magi­stra­te, 310 ff: Justizorganisation des Athenischen Empire, 346 ff: Justizsystem des 4. Jahrhunderts v. Chr.

[64]. Dazu statt aller: G. M. Calhoun, Greek legal science 32 ff.

[65]. Vgl die zahlreichen Beispiele bei R. Taubenschlag, Einfluß der Provinzialrechte 293 ff und derselbe, Das römische Privatrecht zur Zeit Diokletians mwN.

[66]. Einfluss der Provinzialrechte 295 ff.

[67]. Einfluss der Provinzialrechte 297 f.

[68]. Einfluss der Provinzialrechte 298 f.

[69]. Einfluss der Provinzialrechte 299 f.

[70]. Einfluss der Provinzialrechte 300 ff.

[71]. Einfluss der Provinzialrechte 302 ff.

[72]. Hier liegen die historischen Vorbilder für das wechselseitige und das wechselbezügliche (Ehe­gat­ten)Testament sowie die Ehepakte.

[73]. R. Taubenschlag, Einfluß der Provinzialrechte 306 ff.

[74]. Reichsrecht und Volksrecht (1891).

[75]. Griechisches Privatrecht (1923).

[76]. L. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht 51 ff, wo er auch diese Bezeichnung erklärt.

[77]. Vgl auch unten nach Anm 91. – Diese Merker sind urkundlich früh nachgewiesen; vgl etwa Brodersen/Günther/Schmitt, Historische Griechische Inschriften in Übersetzung Nr 26, S 14 f: Lyttos: Vertrag einer kretischen Stadt mit einem Schreiber (poinikastes) und Merker (Mnemon) um 500 v. Chr. oder ebendort Nr 52, S 30 f: Halikarnass 465-450 v. Chr. – Phönizischer Einfluss ist dabei wahrscheinlich.

[78]. L. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht 173. – J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte III 135 berichtet davon, dass im 5. Jahrhundert v. Chr. die Zahl der Ärzte stark zugenommen habe und die­se sich zu Schulen zusammengschlossen hätten, die auch die Ausbildung übernahmen. Das geschah be­son­ders gerne im Anschluss an einen Asklepiostempel, wie in Epidauros, im thessalischen Trikka, auf Kni­dos und Kos: „ … aus den Kurprotokollen, welche hier aufgenommen wurden, sollen etwas wie Archi­ve medizinischer Beobachtung entstanden sein“. (Hervorhebung von mir) – Es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass für diese medizinischen Archive bestehende juristische Einrichtungen als Vorbild ge­dient haben. Ganz abgesehen davon, dass diese offenbar ebenfalls juristischen Vorbildern folgenden „Kur­protokolle“ offenbar die Urform der Krankengeschichte darstellen. – Recht und Medizin haben sich im alten Griechenland immer wieder beeinflusst, wobei die „Richtung“ durchaus wechselte.

[79]. L. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht 174.

[80]. L. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht 174 f.

[81]. L. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht 175 f, wo sich weitere Ausführungen finden.

[82]. Vgl L. Mitteis, Trapezitika, SZ 19, 198; F. Pringsheim, Gesammelte Abhandlungen II 114 ff (1961).

[83]. Zur Diskussion um den Begriff “Rechtswissenschaft” in der Antike vgl Anm 53.

[84]. Dazu mehr im erwähnten Buch.

[85]. Vgl G. M. Calhoun, Greek legal science 58 ff: The legal litterature. – Vgl dazu auch die Aus­füh­rungen in Kapitel VI 3 des Buchs. Erwähnenswert ist hier die Schenkung des Grundstücks für das Ly­keion durch den Schüler Demetrios von Phaleron.

[86]. A. Dihle, Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie 120 f, in: Behrends/Sellert (Hg), Nomos und Gesetz (1995).

[87]. Dazu E. Ruschenbusch, Der sogenannte Gesetzescode vom Jahre 410 v. Chr.

[88]. Dazu auch E. Ruschenbusch, Der sogenannte Gesetzescode vom Jahre 410 v. Chr.

Vgl dazu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 6 P 3 des Buches: Historische Rahmen­bedin­gun­gen.

[89]. Ich gehe vornehmlich in Kapitel 2 P 7 meines Buches auf die Entstehung des Rechtssubjekts (und damit verbunden subjektiver Rechte) im Rahmen der solonischen Gesetzgebung näher ein. Es ist näm­lich bisher nicht hinreichend erkannt worden, das der Einzelne, das Individuum (átomos), rechtlich das Rechtssubjekt, früh im alten Griechenland entwickelt wurde. Dabei gilt es zu bedenken, dass das Ent­stehen des Individuums im alten Griechenland im Laufe des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. nicht be­deu­ten muss, dass diese Entwicklung das Durchtrennen aller Familien-, Verwandtschafts- und Clan­ban­de voraussetzt. Aufwendige Forschungsprojekte wie R. v. Dülmen (Hg), Entdeckung des ICH (2001) haben die Bedeutung der Rechtsentwicklung für die Beantwortung dieser Frage übersehen.

[90]. Vgl die Untersuchung von P. Flora ua (siehe Anm 118), wonach große Rechtsentwicklungen (Re­formwerke, Kodifikationen etc) eher in nichtdemokratisch-autoritären Sytemen entstehen. – In die­sem Sinne auch G. M. Calhoun, Greek legal science 17.

[91]. Griechisches Privatrecht I 355 ff. – Eine Schwäche dieser Ausführungen liegt darin, dass kaum zeitliche Bezüge ausgewiesen werden.

[92]. Den Aussagen dieser Mnemones/Merker kam in Gerichtsverfahren ein hoher Beweiswert zu. In einer Inschrift aus Halikarnass heißt es beispielsweise: „Was immer die Merker wissen, das soll gül­tig sein“. Aus: Brodersen/Günther/Schmitt, Historische Griechische Inschriften in Übersetzung I: Die archaische und klassische Zeit Nr 52, S 30 f (1992).

[93]. Zum berühmten und vielbearbeiteten Stadtrecht von Gortyn: J. Kohler/E. Ziebarth, Das Stadt­recht von Gortyn und seine Beziehungen zum gemeingriechischen Rechte (Göttingen, 1912) sowie E. Weiss, Die große Inschrift von Gortyn und ihre Bestimmungen über Selbsthilfe und Prozess (1948), in: E. Berneker (Hg), Zur griechischen Rechtsgeschichte 315 ff (1968).

[94]. Griechisches Privatrecht I 363 f.

[95]. Das nach L. Mitteis und F. Pringsheim hohe rechtliche Wissen der Trapezitai wurde den Rö­mern über Graecia Magna schon vor oder jedenfalls um die Zeit des römischen Zwölf-Tafelgesetzes (~ 450 v. Chr.) übermittelt; vgl L. Mitteis, Trapezitika, SZ/RA 19 (1898) 198 ff und F. Pringsheim, Zum rö­mi­schen Bankwesen, in: Gesammelte Abhandlungen II 114 ff.

[96]. Vgl dazu oben Anm 26. Dazu: K. J. Hölkeskamp, Tempel, Agora und Alphabet. Die Entste­hungs­bedingungen von Gesetzgebung in der archaischen Polis, In: H. J. Gehrke (Hg), Rechts­kodifi­zie­rung und soziale Normen im interkulturellen Vergleich 135 ff (1994) und Hölkeskamp, (In-)Schrift und Mo­nument. Zum Begriff des Gesetzes im archaischen und klassischen Griechenland, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 132 (2000) 73 ff sowie derselbe, Schiedrichter, Gesetzgeber und Ge­setzge­bung im archaischen Griechenland (1999).

[97]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 364.

[98]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 370 f. — Zu diesen Verbänden R. J. Bonner/G. Smith, The admi­nistration of Justice from Homer to Aristotle I 1 f mwH.

[99]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 387.

[100]. Politik VI 1321 b 34 ff: „Eine andere Behörde ist die, bei der die Privatkontrakte und gericht­li­chen Erkenntnisse schriftlich hinterlegt werden müssen. Bei den Mitgliedern eben dieser Behörde sind die Klageschriften einzureichen und die Prozesse einzuleiten. …“. (Zitiert nach Aristoteles, Philo­sophi­sche Schriften in sechs Bänden, Bd 4: Politik) – An Beamtenbezeichnungen nennt Aristoteles in diesem Zusam­menhang Notare (Hieromnemonen), Vorsteher (Epistaten), Kanzlisten (Mnemonen) etc.

[101]. So E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 398.

[102]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 400 ff mwH.

[103]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 403 f.

[104]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 405.

[105]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 410 f iVm 293 ff.

[106]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 411 f.

[107]. Das Aufkommen pfandrechtlicher Aufzeichnungen durch Archive führt zum Verschwinden der [óroí]/Pfandmarken, die nur eine Hinterlegung bei einem Dritten kennen; E. Weiss, Griechisches Pri­vatrecht I 412 f.

[108]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 412.

[109]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 413 und Hinweise auf L. Mitteis.

[110]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 415 f.

[111]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 417.

[112]. E. Weiss, Griechisches Privatrecht I 418 f.

[113]. Griechisches Privatrecht I 419 f.

[114]. Vgl auch die Hinweise in den Arbeiten von L. Mitteis und F. Pringsheim.

[115]. E. Levy, Westen und Osten 165. – Zum Rechtsunterricht in Rom: B. Kübler, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft I Sp 394 ff (1920): Danach konnte sich ein syste­ma­tischer Rechtsunterricht erst nach Begründung einer theoretischen Rechtswissenschaft herausbilden, also nicht vor P. Mucius Scaevola, Brutus und Manilius, qui fundaverunt ius civile.

[116]. Geändert hat sich das offenbar auch nicht in den Jahren nach der makedonischen Machter­grei­fung nach 338 v. Chr.

[117]. Im antiken Griechenland bestand lange eine ausgesprochene Scheu, alte und für ehrwürdig erachtete Gesetze abzuändern oder ganz aufzuheben. Deshalb wurde aber nicht auf den nötigen recht­li­chen Wandel verzichtet. Vgl nur die Überlegungen bei Aristoteles (Politik II 8, 1268b) und schon bei Pla­ton, Politeia 300b-d und Nomoi 769d und 772b. Der Rat, altes Recht ebenso wie alte Sitten und Bräu­che nicht aufzugeben oder auch nur abzuändern, wird vor allem phytagoreischem Einfluss zuge­schrie­ben.

[118]. Wie so oft in der Weltgeschichte vollziehen sich große und durchaus epochale Veränderun­gen nicht nur in politisch sensiblen und schwierigen demokratischen Systemen; dazu P. Flora/J. Alber/ J. Kohl, Zur Entwicklung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, in: PVS 18 (1977) 707 ff. – Beispie­le dafür stellen neben dem Corpus Iuris Civilis Justinians auch die großen Kodifikationen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dar oder die Schaffung des modernen Sozialversicherungssystems durch Bis­marck in den 80iger Jahren des 19. Jahrhunderts sowie das deutsche BGB.

[119]. Zur Steigerung der Bedeutung der Rechtsvertretung in der hellenistischen Ära, wo ein so­ge­nann­ter „pragmaticus“ als anwaltlicher Rechtsvertreter entstand: G. M. Calhoun, Greek legal science 52 und die Ausführungen in P 3 dieses Buchkapitels, das näher auf die Entwicklung nach dem Jahr 338 v. Chr. eingeht.

[120]. Vgl etwa R. Zimmermann, Europa und das römische Recht, AcP 202 (2002) 243 ff. – Vgl damit aber den vorbildlichen Vortrag von H. E. Troje, Europa und griechisches Recht (1971).

[121]. Dies ist der Titel meines Buches, den ich jedoch mit einem Fragezeichen versehen und mit einem Untertitel ergänzt habe.