Digesta 2007

SOLONS „EUNOMIA“
UND DAS KONZEPT DER ÄGYPTISCHEN „MA’AT“
EIN VERGLEICH

[Zu Volker Fadingers Übernahms-These]*

Heinz Barta, Innsbruck

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„Dass aber Zweifel bei jedem Versuche, in die Denkformen
so ferner Zeiten und uns so fremder Völker einzudringen, bleiben müssen,
wer wollte dies in Abrede stellen? Und wer wollte heute noch den Römern allein
die zeitliche Priorität aller juristischen Begriffsbildung vindizieren?“

Leopold Wenger, Nationales, griechisches und
römisches Recht in Aegypten (1936)

 

Einleitung

Das Ziel der folgenden Ausführungen ist ein bescheidenes: Es soll V. Fadingers These geprüft werden, dass Solons Eunomia-Vorstellungen inhaltlich namhaft ägyp­tisch beeinflusst sind. – Die These wurde vor etwa 10 Jahren formuliert. Es war nicht das erste Mal, dass – freilich meist nur nebenbei geäußerte – Vermu­tun­gen angestellt wurden, Solon habe im Rahmen seiner Gesetzgebung ägyptische Vor­­bilder übernommen. Solche Äußerungen erfolgen idR unter Hinweis auf die Bemer­kun­gen von Herodot (II 177), Diodor (I 77, 5) und/oder Diogenes Laertios (I 55); vgl etwa I. M. Linforth[1] oder Kathleen Freeman[2].

Die Diskussion um einen mehr oder weniger großen ägyptischen Einfluß auf So­lons Gesetzgebung wurde schon im Altertum geführt – und sie ist, wie wir sehen, bis heute nicht verstummt. Gefragt wurde dabei bislang insbesondere nach der Her­kunft bestimmter solonischer Gesetze, nämlich des nomos árgias – einem Gesetz So­lons, das Bürger, die keiner Beschäftigung nachgingen, bestrafte: – Ähnliches wur­de von der solonischen Seisachtheia behauptet, für die ebenfalls historische Vor­bilder, und zwar ägyptische wie mesopotamische, existieren.

Betonen möchte ich, dass ich nur Unfertiges und Unspektakuläres vorzulegen vermag, denn das behandelte Thema ist bestimmt auch mit meiner Auseinander­set­zung noch nicht ausdiskutiert. Ich denke aber, dass es dieses Thema verdient, neuer­lich behandelt zu werden, ist es doch über die Alte Geschichte und Altorientalistik hinaus auch für die Rechtsgeschichte und die Rechtsphilosophie – und sogar poli­tisch von Bedeutung. Denn wenn die angesprochene Gleichung stimmt, dass Euno­mia = Ma’at ist, bedeutet das nicht weniger, als dass das Fundament der europäi­schen Rechtsidee (der Gerechtigkeit) – und mit ihr der davon funktional abgeleitete Rechtsbegriff samt den Grundlagen unserer Rechtsstaatlichkeit – ein ‚Import­pro­dukt’ aus dem Alten Orient darstellt[3].

Ich hoffe damit das Interesse des Jubilars zu finden, dessen fachliche Arbeit sich seit geraumer Zeit auch den vielschichtigen kulturellen Austauschbeziehungen zwischen den ‚Griechen’ und den Völkern des Vorderen und Alten Orients zuge­wandt hat[4]. – Da an weitere Zusammenarbeit gedacht ist, sei dieser Beitrag als inter­disziplinäre Morgengabe eines an Alter Geschichte und Rechtsgeschichte inte­ressiereten Juristen dargebracht. Vielleicht vermag solche Kooperation dem alten, aber immer noch auf Einlösung harrenden Gedanken einer Antiken Rechts­ge­schi­chte – wenigstens auf begrenztem Gebiet – neues Leben einzuhauchen. Das könnte dazu beitragen, historische Korrekturen nach zwei Seiten hin zu bewirken: Einer­seits könnte dadurch aufgezeigt werden, dass auch die Griechen (und nicht nur die Römer) einen bedeutenden Beitrag zur iurisprudentia perennis geleistet haben und andrerseits könnte wahrscheinlich gemacht oder da und dort sogar nachge­wie­sen werden wie viel auch die Griechen dem Alten Orient verdanken. – Der folgende Beitrag gehört zur letzteren Gruppe.

Zunächst kurze wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen:

  • Es kann mE nicht als einziges Ziel historischen Denkens angesehen werden, stets unumstößliche Gewissheiten oder Wahrheiten aufzuzeigen. Mitunter äußert sich echter Wissenschaftsgeist auch darin, bloßen Möglichkeiten oder mehr oder we­niger großen Wahrscheinlichkeiten nachzuspüren. Ich denke, das ist im Bereich alter Kulturen mitunter schon sehr viel. – Kurz: (Rechts)Historische wissens­chaft­li­che Reflexion und Recherche schliesst auch die Bereiche des historisch Möglichen und die vielen Abstufungen des Wahrscheinlichen in sich, mag auch das letztliche Ziel historischen Forschens das Erreichen historischer Wahrheit bleiben. – Das gilt für das Verhältnis zwischen Rom und ‚Griechenland’ und noch viel mehr für die Kon­takte und Beziehungen zwischen dem antiken ‚Griechenland’ und dem Alten Orient (insbesondere dem Nahen Osten, Mesopotamien und Ägypten).
  • Das hat zur Folge, dass in Bezug auf rechtliche (wie andere) Transfers, Re­ze­ptionen und Beeinflussungen nicht nur die beiden extremen Möglichkeiten der voll­stän­digen Übernahme und der Autochthonie bestehen, sondern auch ein tertium exi­stiert: die partielle Integration fremden Rechts in eigene, autochthone Entwick­lung/ en. Wenn der Schein nicht trügt, ist von dieser dritten Möglichkeit sogar relativ häu­fig Gebrauch gemacht worden, in Griechenland wie in Rom. – Um solche Pra­kti­ken anschaulich und bildlich vorstellbar zu machen sei ein begrifflicherVergleich aus der Architekturgeschichte herangezogen; diese spricht im Falle der Verwen­dung fremder Bauelemente beim Errichten ‚eigener’ (späterer) Bauwerke – idR von Fol­ge­kulturen, von Spolienarchitektur. Auch im Bereich der Rechtsgeschichte und Recht­sentwicklung kann man in solchen Fällen von einer normativen oder auch le­gislativen Spolienarchitektur sprechen. Ich will versuchen aufzuzeigen, dass bspw Solons Eunomia-Konzept konstruktive Spolienstücke aus dem ägyptischen Ma’at-Gebäude enthält.
  • Wir müssen bei all unseren Überlegungen auch bedenken, dass die griechi­sche – und idF auch die römische – Kultur keine der großen Anfangskulturen der Men­schheit war. Das ist insofern nicht banal, weil es nahe legt, dass die ‚Griechen’ und ‚Römer’ manches von den Hochkulturen des Alten Orients übernommen haben dürften, wobei sich bislang unserem Wissen gewiss noch vieles entzieht, oder – und das erscheint gerade für das historische Rechtsdenken von Bedeutung – trotz wis­sen­schaftlicher Aufbereitung (durch andere Disziplinen) von der Rechtswissen­schaft und Rechtsgeschichte disziplinär noch nicht aufgegriffen und ins eigene Fach ‚trans­formiert’ wurde[5]. – Allein die Geistes- und Sozialwissenschaften hinken diesbezü­glich den Naturwissenschaften fast hoffnungslos hinterher! Das gilt für die Be­zie­hung zwischen den Griechen und den Kulturen des Alten Orients ebenso, wie idF für die Beziehung zwischen den Hellenen und Rom. Dass das bisher nicht gesche­hen ist, stellt wohl eher keinen Zufall dar, wissen wir doch alle um die vielfältigen Versuchungen von Wissenschaft durch die Politik, Ideologien, curriculare Egois­men oder auch nur wissenschaftlichen Narzissmus.

Und die wissenschaftliche Beweislast in solchen Fragen kann mE nicht immer so einseitig verteilt werden, wie das bisher geschehen ist. In Frage kommt vielmehr die gesamte Beweislastpalette, wie sie auch im geltenden Recht Anwendung findet[6].

Man denke etwa an die entscheidenden Anregungen Ägyptens zur Entwicklung der bildenden Kunst (skulpturelle Großplastik), den monumentalen Stein- und Tem­pel­bau[7] oder die Orientierung der griechischen Medizin[8] an ägyptischen Vorbildern. Und in Bezug auf die Literatur/en, die Weisheitslehren[9] und vor allem auch reli­giö­se Vorstellungen sind die ‚Griechen’ nicht nur vom Nahen Osten, sondern auch aus Ägypten[10] und Mesopotamien sowie Persien beeinflusst worden. – Zu recht betont aber Walter Burkert[11]: „Weniger offen als in Architektur und bildender Kunst lie­gen Beziehungen im geistig-religiösen Bereich zutage“. Was sich unschwer auf den Rechtsbereich übertragen lässt. – Es scheint daher nicht verwunderlich, dass nicht erst seit heute vermutet wird, dass die Hellenen auch rechtlich manches von den alten Kulturen übernommen haben.

  • Das lehrt uns auch, dass es in der Rechtsgeschichte beträchtliche Probleme im Hinblick auf die Anerkennung und Bewahrung bereits erreichter wissenschaftlicher Rezeptions- und Transfererkenntnisse gibt, was freilich nicht ganz neu ist. – Die Fra­ge, der wir uns künftig verstärkt widmen sollten, ist daher die, wie wir damit umge­hen sollen und ob sich dieser beklagenswerte Zustand nicht bessern lässt. Wäre es nicht an der Zeit, bekannte oder doch wahrscheinliche rechtliche Einflüsse zusam­men­zutragen und aufzulisten, um das ‚Schiesspulver’ nicht immer auf’s Neue erfin­den zu müssen? Das gilt – wie erwähnt –sowohl für die historische Beziehung der ‚Griechen’ zum Alten Orient, als auch für die vielfältigen Beziehungen zwischen Griechen und Römern. Rechtliche Rezeptions- und Transferlisten stellten daher heu­te eine wichtige wissenschaftliche Forderung dar. Das könnte wissenschafts­orga­nisatorisch zunächst jährlich für einzelne Staaten (zB durch wissenschaftliche Ein­richtungen oder Vereinigungen) erstellt und idF europäisch bzw global zusam­men­geführt, diskutiert und publiziert werden. Was vielleicht auch einen interes­san­ten und lebendigen Gedankenaustausch zu bewirken vermag, der nicht auf die Na­tur­wissenschaften beschränkt bleiben muß.
  • Besonders schwierig ist es oft – mitunter sogar gänzlich unmöglich – neben inhaltlichen Vermutungen auch zu sagen, wie und auf welchem Weg rechtliche Re­ze­ptionen oder Transfers im Detail erfolgten; mag auch eine Übernahme (vom er­reichten Ergebnis her) feststehen, wahrscheinlich oder doch möglich sein. – Auch die­sen Fragen sollte daher künftig besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bereits in dieser Veranstaltung wird aber die eine oder andere Frage angesprochen werden und dies kann als ein Anfang solchen Bemühens betra­chtet werden. Wir hoffen dieses Bemühen fortsetzen zu können.

Vor meinem Eingehen auf Fadingers Thesen sollen Ma’at und Eunomia kurz skizziert werden; ich will dabei versuchen, die Darstellung solonischer Gedanken mit kurzen Hinweisen auf allfällige Parallelen zum Ma’at-Konzept zu verbinden.

 

  1. Ma’at

Kurze Umschreibungen dieses ägyptischen Konzepts der Gesellschaftss­teue­rung sollen einen ersten Einblick vermitteln:

  • Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (19952) skizziert den Gegenstand seines Buches: „Das ägyptische Wort für [das Prin­zip der konnektiven Gerechtigkeit] ist Ma’at. Ma’at bedeutet, nach der einzigen De­finition, die wir in einem ägyptischen Text gefunden haben, das Prinzip, das be­wirkt, dass das Gute sich lohnt und das Böse sich rächt: ‚Der Lohn eines, der han­delt, besteht darin, dass für ihn gehandelt wird. Das hält Gott für Ma’at[12].’ Der Kern dessen, was Ma’at bedeutet, liegt im Bereich des Rechts. Vergessen wir nicht, dass der Wesir, der im ägyptischen Staatsaufbau das Ressort Justiz verwaltet, den Titel eines Priesters der Ma’at trägt. Ma’at ist das Berufsnumen der Richter, die Göttin der Rechtsprechung. Der Wesir ist als Sachwalter der Ma’at aber auch der höchste Staatsbeamte. Das zeigt die zentrale Stellung, die das Recht – und d. h.: die Ma’at – im ägyptischen Staat einnimmt. Die Grundidee des Rechts – in der archaischen Welt – ist die Herstellung der Konnektivität, d. h. von Bindung und Verbind­lich­keit. Das Prinzip Ma’at begründet eine Spähre der Geltung von Normen, die die Men­­schen miteinander und die Folgen mit dem Handeln verbinden“.
  • Eine andere knappe Umschreibung des altägyptischen Konzepts der Ma’at fin­det sich auch bei W. Westendorf, Ursprung und Wesen der Maat 201 (1966): „Im altägyptischen Pantheon der geschichtlichen Zeit spielt die Göttin Maat ... als Per­so­nifikation der Begriffe ‚Recht, Gerechtigkeit, Ordnung, Wahrheit’ eine zentrale Rol­le, da sie eng mit den beiden wichtigsten Göttern, dem Sonnengott Re und dem Totengott Osiris, verbunden ist und darüber hinaus auch zum König, als dem irdi­schen Sachwalter der göttlichen Ordnung, in engster Beziehung steht“.
  • Und H. A. Schlögl führt aus[13]: „Beide, Götter und Menschen, vereinte die Verp­flichtung auf die Maat. Dieser Begriff, der oft mit ‚Wahrheit’, ‚Recht’, ‚Ge­rech­­tigkeit’ übersetzt wird, hat einen so vielschichtigen Inhalt, dass er in der Über­set­zung nicht durch ein einziges Wort ausgedrückt werden kann. Maat verkörpert die Weltordnung, die der Schöpfergott bei der Schaffung der Welt gesetzt hat, be­deu­tet das Gegenteil von Chaos, beinhaltet die Gesetzmäßigkeit der Natur und ord­net das Zusammenleben der Menschen untereinander. Der Ägypter hat diesen Be­griff personalisiert in der Gestalt der Göttin Maat, die als Tochter des Sonnengottes Re galt. Bildlich wird sie als Frau dargestellt[14], die auf dem Kopf als Schei­telat­tri­but eine Straußenfeder, ihr Schriftzeichen, trägt. Doch nicht nur die Maat in die Tat umzusetzen war Aufgabe von Göttern und Menschen, sie waren auch verpflichtet, alles, was der Schöpfung entgegenstand, sie bedrohte oder sinnentleert machte, ab­zu­wehren. Das Wort ‚Isefet’ war der ägyptische Sammelbegriff negativer Kräfte und für die Feinde der Schöpfung. Er schloß Mord, Lüge, Gewalt und Tod genauso ein wie Leiden, Mangel, Krieg und Ungerechtigkeit[15]“.
  1. Eunomia

Solons Eunomia-Verständnis[16] wurde vielfach analysiert und beschrieben und dabei stets – wie nicht anders zu erwarten – mit gewissen Besonderheiten ausge­stat­tet. Ich will idF versuchen, orientiert an Solons eigenen Aussagen, den Kern seiner Vor­stellungen zusammenzufassen, verweise aber zuvor noch auf die literarischen Äußerungen von: Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen (1907)[17]; Ehrenbergs, Eunomia (1946) oder Jae­gers, Solons Eunomia (1926/1960) oder dessen Praise of Law (1947) sowie Heini­manns Untersuchung über „Nomos und Physis“ (1945/1987)[18]. Auch Ch. Meier[19] ver­steht noch – wie die zuvor genannten Autoren – Solons Schaffen autochthon – ohne Seitenblick auf den Alten Orient.

Worum geht es Solon in seiner Staats- oder Eunomia-Elegie (die er schon vor sei­ner Tätigkeit als Aisymnet und Archont geschaffen hat)[20]?

  • Er preist darin – wohl auf Hesiod aufbauend, aber über diesen hinausgehend – Ευνομία/Eunomía und rät den Athenern, Δυσνομία/Dýsnomia zu vermeiden. Dieses Begriffs- und Gegensatzpaar taucht erstmals bei Solon auf, Hesiod kennt es noch nicht. Eunomía ist nunmehr die gute und wohlgefügte Ordnung der gesamten Polis. Der solonische Begriff der Eunomia deckt sich nicht mehr ganz mit dem Hesiods – und erst recht nicht mit dem homerischen, sondern ist bereits mehr; nämlich im Stile der ägyptischen Ma’at ein gesellschaftlich-normatives Gesamtsteuerungs­kon­zept mit starker Wertorientierung auf das Wohl der Polis. Eunomia im Sinne Solons vereinigte mE die einschlägigen normativ-religiösen Aspekte von Zeus, Themis[21], Athene sowie der drei Horen oder Moiren. Bei Hesiod ist Eunomia eine der drei Töch­ter von The­mis und Zeus. Nimmt man aber zu Hesiods Eunomia-Verständnis Zeus und Themis dazu, erweist sich Lloyd-Jones Annahme als zutreffend, dass zwi­schen Solon und Hesiods Denken keine künstlichen Unterschiede gemacht werden sollten[22].

Eunomia/Ευνομία[23] und ihre göttliche Schwester Δίκη/Díke[24] (die gerechte Ver­geltung oder die Gerechtigkeit oder schlicht das Recht) kämpfen gegen Hýbris/ ‘ύβρις (Anmaßung, Überheblichkeit) und Bia/βία (Gewalttat) und ihr Sieg schafft Eiréne/’Είρήνη (Frieden); das ist die dritte der Moiren und Schwester von Dike und Eunomia, die alle Töchter der Themis[25] (und des Zeus) sind. Für Lloyd-Jones „this family was no doubt his [sc Hesiods] own invention“ und mythologische Genealo­gien „was for Hesiod a means of expressing his beliefs about the universe and the way in which Zeus governs it”[26].

  • Bereits bei Homer (Ilias XVI 386 ff) und verstärkt bei Hesiod[27] war das ungerechte Handeln des Einzelnen mit der Wohlfahrt der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft verbunden[28]. Ähnliche Gedanken tauchen nun bei Solon auf, mag auch Solons Gerechtigkeitsdenken bereits differenzierter und auch schon mediati­sier­ter gewesen sein. – Schon für Hesiod bestand aber die Überzeugung, dass Recht und Gerechtigkeit die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft sei[29], was von Solon weiterentwickelt wird.
  • Solon geißelt in seinem Eunomia-Gedicht uH auf Zeus und Athene[30] den unge­rechten und selbstsüchtigen Sinn der Bürger: Der Kampf gegen Selbstsucht und Habgier ist ein zentrales Thema der Ma’at; vgl Assmann, Ma’at 85 ff.
  • Solon macht für den beklagenswerten Zustand seiner Vaterstadt Athen den Man­gel an Recht verantwortlich: Das Recht bindet nach seinen Vorstellungen den Einzelnen in die Gemeinschaft ein. – Ein Mangel an Recht bzw seiner Befolgung be­deutet daher den Mangel einer solchen Einbindung. – Das ist ein Hauptthema des Ma’at-Konzepts; vgl Assmann, Ma’at zB 115.
  • Als Legitimation für die harsche Kritik in seiner Eunomia-Dichtung beruft sich Solon auf seine „innere Stimme“, was wir heute Gewissen nennen. – Die Aus­bil­dung eines Gewissens (Sokrates spricht später vom Daimonion) erfolgte zuerst in Ägypten – und zwar sehr früh (ab der Ersten Zwischenzeit = dem Ende des 3. Jts. v. C.) – im Rahmen des Entstehens einer neuen Seelenvorstellung im Zusammenhang mit der Osiris-Religion; vgl Assmann, Ma’at 118 ff. – Die Seelen- oder Ba-Vor­stel­lung der Ägypter wurde als Folge des Untergangs des Alten Reichs im Mittleren Reich auf eine neue Grundlage gestellt: Man könnte mit ägyptischem Bezug sagen – die Seelen-Pyramide wurde von der Spitze auf die Basis gestellt; Assmann (Ma’at zB 118, insbesondere 119 ff) spricht von einer „Demotisierung der königlichen To­ten­religion“[31] und meint damit jene Entwicklung, dass nunmehr jeder Mensch und nicht nur der König eine unsterbliche Seele ‚erhielt’ und damit die Chance im Jen­seits ein göttliches Leben zu führen. – Dadurch konnte ein neues Menschenbild ent­ste­hen, das nicht nur durch eine Außen-, sondern auch eine Innenseite bestimmt war; für die äußere Stabilisierung sorgte die (für das Ma’at-Konzept und idF die so­lo­nische Eunomia so typische) Einbindung des Einzelnen in die Gemeinschaft (mit dem König, bei Solon dem Volk, als Zentrum); dem stand nun für die ‚Innen­sta­bili­sie­rung’ das Herz gegenüber (als Sitz des Wollens, Denkens und Fühlens), das den Men­schen leiten und zum Guten anhalten sollte. Die innere Stimme des Herzens oder der Seele (Solon verwendet dafür die Worte thymos und phrenos; letzteres meint das Zwerchfell als Sitz der Seelentätigkeit und bedeutet auch Seele) wird zum Gewissen, das das menschliche Handeln leiten und zu einer Übereinstimmung von Außen und Innen führen sollte; das Ergebnis war Wahrheit iSd Ma’at. Man könnte auch sagen: Ma’at wird zum – in dieser Reihenfolge! – äußeren und inneren Gewis­sen, deren Übereinstimmung ‚Wahrheit’ (individuelle wie gesellschaftlich-kolle­kti­ve)[32] bewirkt. Ma’at wird zur ‚Richtschnur’ des gesamten menschlichen Han­delns[33]! Ma’at wurde damit nicht nur zu einer Sache des Tuns und Redens, also eines äuße­ren Verhaltens, sondern – sogar vornehmlich – „des Denkens, Meinens, Planens und Wollens, der ‚Gesinnung’“[34]. Damit waren die Voraussetzungen einer Schuld- und Verantwortungs-, aber auch für eine Tugendlehre[35] geschaffen, die nicht nur reli­giös, sondern auch irdisch-rechtlich angewandt werden konnten. Das ägyptische Totengericht[36] gehörte dabei – nach Assmann (Ma’at 122) – „zu den fundamentalen Ideen der Menschheitsgeschichte“, aber – so können wir ergänzen – auch der Rechts­geschichte. Die Bedeutung des Totengerichts – das mit der Unster­blich­keits­vor­stellung der Seele „steht und fällt“ (Assmann)[37] – für die Rechtsentwicklung liegt auch darin, „dass es das Schuldgefühl des Menschen, das sich ... in engster Abhängigkeit von den ‚Konstellationen’ seiner Gruppenzugehörigkeit entfaltet, an einem archimedischen Punkt außerhalb der Gruppen verankert und dadurch auf eine gruppenabstrakte (und in dieser Hinsicht ‚absolute’) Grundlage“ stellte. Das führt auch ‚irdisch-rechtlich’ zu einem objektiven Verschuldensmaßstab, der von subje­kti­ven Elementen frei gehalten wird[38]. – Eines war mit der Idee des Totengerichts zu­sätzlich erreicht – und das erscheint für uns von besonderem Interesse: Künftig konnte auch die irdische Justiz nach keinem anderen Maßstab mehr richten. Das ganzheitliche Konzept der Ma’at, die das Diesseits und das Jenseits regierte, ließ das nicht zu. Die religiösen Vorgaben verlangten ein Nachziehen/Anpassen der irdi­schen Justiz; zunächst in Ägypten und idF – das gilt etwa für die drakontische Ent­wicklung – offenbar (wenn auch mit großer zeitlicher Verspätung) auch im archai­schen Griechenland (wohl mit dem Umweg über Delphi und Kreta) des 8. und nachweislich im 7. Jh. v. C.
  • Eben wurde das ägyptische Totengericht erwähnt; und es wurde auf eine Bestimmung in den Gesetzen Solons hingewiesen, die es untersagte, über Tote schlecht zu reden. Diese Vorschrift gelangte nicht nur auf interessantem Weg in das moderne Rechtsdenken, sondern wir müssen uns heute auch fragen, ob sie genuin griechischer Herkunft ist[39]. Diese gesetzliche Anordnung Solons, die zum Ausgang­s­punkt des modernen postmortalen Persönlichkeits(rechts)schutzes wurde, könnte auf Solons Kenntnis des von Diodor geschilderten ägyptischen Totengerichtspro­zes­ses zurückgehen, wobei es zu einer diesseitigen Nachahmung gekommen sein könnte. Interessant ist hier folgender Teil, der von Diodor geschilderten Zeremonie: „... falls die Richter aber finden, die Anklage sei ungerecht, dann wird der Ankläger bestraft. In diesem Fall wurde also die ‚Anklage’ als schlechte oder üble Nachrede ge­wertet und Solon könnte dieses Vorbild aus dem ägyptischen Totenprozess über­nom­men und daraus die de mortuis nihil nisi bene-Regel geschöpft haben; dazu auch bei Anm 72. – Dazu konnte die weitere Überlegung getreten sein, was freilich die Kenntnis eines Totengerichts bereits in solonischer Zeit voraussetzt: Der Tote ist bereits gerichtet, es bedarf der menschlichen Justiz nicht mehr. Ein Zuwider­han­deln missachtet den Jenseitsglauben und ist daher – wegen seiner zusätzlichen ge­sell­schaftsschädlichen Auswirkungen – zu bestrafen. (?)
  • Dazu kam etwas, was zur Zeit Solons bei den Griechen erst im Entstehen war, bei den Ägyptern aber bereits über eine lange Tradition verfügte: der Respekt vor der Macht des (gesprochenen oder geschriebenen) Wortes, insbesondere auch der Rede; dazu mehr bei Anm 73[40].
  • Generell scheint mir die sehr hohe Einschätzung von Gesetz und Recht bei den Griechen und auch Solon, der in seinem Eunomia-Gedicht der Eunomia wahre Wun­derdinge zuschreibt, nicht nur autochthon gewachsen, obwohl sie auch Hesiod be­reits vertritt. – Solon beklagt in der Eunomia-Elegie die mangelnde „Ehrfurcht … vor der Dike Gesetz“. Man kann darin auch einen für das Ma’at-Konzept typischen Konnex von Religion und Herrschaft/Politik erkennen; vgl Assmann, Ma’at 200 ff[41]. – Auch die solonische Vorstellung, dass das Recht die Menschen lenkt und da­durch gesellschaftliche/staatliche Ordnung herstellt scheint ägyptisch beeinflusst; vgl We­sten­dorf, Ursprung und Wesen der Maat 215: Lenkung (Maat ‚Lenkerin’) und da­durch hergestellte Ordnung (Maat ‚Gelenktes’).
  • Dike verlangt – wie Ma’at – auch bei Solon Rechenschaft über das men­schli­che Handeln (und zwar über das Erdenleben hinaus) und beide Konzepte und Kul­tu­ren – die ägyptische wie die griechische – kennen nicht nur eine individuelle, son­dern auch eine kollektive Verantwortung[42]; vgl Assmann, Ma’at 158: „Ich tat dies auf Erden, .../um ein gutes Ende zu erreichen für die Kinder,/die nach mir sein wer­den in diesem Lande/in Ewigkeit“[43]. – In manchen dieser ‚Fälle’ müssen aber allfä­li­ge Parallelentwicklungen bedacht werden.
  • Fadinger wies[44] uH auf Assmann und andere auf die Parallele zwischen Ma’at-Konzept und Solons Eunomia-Lehre bezüglich des Schutzes von Armen und Schwachen hin; allein Ma’at beinhaltet mehr. – In seiner Dichtung beklagt es Solon, dass die Armen nicht mehr beschützt, sondern „in die Fremde gejagt“ und der „Skla­ven Los“ (Eunomia 24) trügen etc.
  • Solon rügt in der Eunomia-Elegie auch die Hoffnung mancher, durch ein zu­rück­gezogenes Leben im Privaten dem gemeinsamen Schicksal zu entkommen und bezeichnet ein Leben im privaten Abseits als trügerisch; denn niemand könne sich seiner Pflicht entledigen, seinen gesellschaftlichen Beitrag zum eigenen und zum Wohlergehen der Gemeinschaft zu erbringen: weder der Einzelne, noch die (Vertre­ter der) Gemeinschaft. – Gegenseitigkeit und Solidarität sind auch geradezu Eck­pfei­ler des Ma’at-Konzepts; vgl Assmann, Ma’at 58 ff. – Das wird bei Solon noch gesteigert durch sein Stasis-Gesetz[45].
  • Am Ende seines Gedichts ruft Solon erneut die Bedeutung seiner ‚Rechts-Staatlichkeit’ – der Eunomia – in Erinnerung und ermahnt die Reichen und Mächti­gen, das Recht einzuhalten. – Das ist Ma’at pur.

 

  1. Fadingers Thesen

Fadinger konzentriert seine Untersuchung auf zwei Hauptfragen, von denen die erste, sie betrifft den Vergleich von Solons Eunomia-Konzeption mit der „altägypti­schen Ma’at-Lehre“ – wie er formuliert – „von der bisherigen Forschung überhaupt nicht gestellt“ und die zweite – sie fragt nach den „spezifischen Bedingungen“ unter denen sich Solons Denken entwickelte – bislang „nur sehr unzureichend“ beant­wortet worden sei. Sein Forschungsansatz wurde in einem Sammelbandbeitrag[46] mit dem Titel „Solons Eunomia-Lehre und die Gerechtigkeitsidee der altorientali­schen Schöpfungsherrschaft“ (1996) folgendermaßen formuliert:

„Es geht mir – so Fadinger – darum, die Eunomia-Konzeption Solons mit der altorientalischen ‚Schöpfungsherrschaft’, besonders jener der altägyptischen Ma’at-Lehre, zu vergleichen. Ich möchte herausfinden, welche geistigen, direkt oder indi­rekt aus den mesopotamischen und speziell den ägyptischen Weisheitslehren stam­men­den Impulse Solon zu seinem Gedicht und der darauf fußenden Gesetzgebung angeregt haben und inwieweit er diese Anregungen dann in einem ganz und gar eigenständigen Denkprozeß so umgeformt hat, dass er zum Schöpfer jenes einzigar­ti­gen Bürgerstaates werden konnte, der, ohne die zentrale Instanz eines Königtums, den Athenern erstmals Richtung und Ziel zu einer demokratischen Selbstverwaltung durch Teilhabe aller Bürger gewiesen hat. Das markiert den einzigartigen Sonder­weg Griechenlands und Europas innerhalb der sogenannten Achsenkulturen als ‚einen Neubeginn der Weltgeschichte’“[47].

Dieser Forschungsansatz Fadingers erscheint vorbildlich, allein Fadinger hält sich idF nur teilweise daran. – Er war auch, wie erwähnt, nicht der erste, der eine Beeinflussung oder Abhängigkeit griechischer Gesetzgeber der Frühzeit – und ins­be­sondere auch Solons, durch orientalisches Gedankengut konstatiert hatte.

Er selbst verweist auf Mühl[48], der in einer rechtsvergleichenden Studie zum Ergeb­nis gelangt war, dass sowohl Zaleukos (im epizephyrischen Lokri), Cha­ron­das (im sizilischen Katane) und Lykurg (in Sparta), als auch Drakon und Solon (in Athen) von „wesentlich älteren Gesetzeskodifikationen des Orients abhängig“ ge­we­sen seien[49]. Das sei auch nicht weiter erstaunlich, bezeuge doch Diodor aus­drück­lich, dass Solon, Lykurg und später auch Platon „zu Studienzwecken Reisen in den Orient unternommen und ‚viele der Gesetze aus Ägypten in ihre eigene Ge­setz­gebung eingeordnet hätten’“[50]. – Näher ausgeführt wird das nicht[51].

Im Anschluß führt Fadinger zwei Rezeptionsbeispiele Solons an:

  • Das erste betrifft Herodot (II 177, 2), der von Pharao Amasis (~ 570-526 v. C.) berichtet[52]: „Amasis gab den Ägyptern auch folgendes Gesetz: Jeder Ägypter musste jährlich dem Verwalter des Gaues sein Einkommen angeben. Wer das nicht tat und keine rechtmäßigen Einkünfte nachweisen konnte, wurde mit dem Tode best­raft. Solon von Athen hat dieses Gesetz von den Ägyptern übernommen und in Athen eingeführt. Die Athener haben es noch heute, weil es ein untadeliges Gesetz ist“[53]. (Hervorhebung von mir) – Damit wird Solons nomos árgias (F 148a-e) ange­s­prochen; dazu gleich mehr. Im ‚Buch’ („Graeca non leguntur“?) gehe ich auf den durch W. Schmitz zu Tage geförderten autonomen bäuerlichen Hintergrund die­­ses solonischen Gesetzes ein, der eine Rezeption aus Ägypten überflüssig erschei­nen lässt, was nicht ausschliesst, dass Solon dieses Gesetz gekannt hat.

Eine Ägyptenreise Solons vor seiner Gesetzgebungstätigkeit ist historisch nicht belegt, was nicht heißt, dass sie nicht stattgefunden hat; Fadinger äußert sich dazu nicht. – Solons Wissen um ägyptische Weisheitslehren, die Ma’at oder mesopota­mi­sche Vorbilder setzt aber weder eine Ägyptenreise, noch ein Treffen mit einem der in Frage kommenden Herrscher voraus. Er kann aufgrund der bestehenden hi­storischen Situation[54] auch anderweitig Kenntnis von solchen Schriften erlangt ha­ben. Belegt ist aber auch das nicht. – Historisch können daher nur vergleichende Rückschlüsse gezogen werden, die Solons (Gesamt)Werk – d. h. seine Dichtung und seine Gesetzgebung – mit Aussagen zur Ma’at und den ägyptischen Weisheits­lehren vergleichen. Hier ergibt sich in der Tat – wie wir sehen werden – manche Pa­rallele, wenngleich all das noch näher untersucht gehörte[55].

  • Nach Diodor (I 79, 3) habe bereits Pharao Bokchoris von Sais (~ 720-715 v. C.) „die Pfändung der Person und damit die Schuldknechtschaft gesetzlich verbo­ten“[56] und schon Diodor habe vermutet (I 79, 4), „dass Solon auch dieses Gesetz nach Athen übernommen und es ‚Seisachtheia’ genannt habe, als er alle Bürger von den Darlehen befreite, für die sie ihre Person verpfändet hatten“. (Hervorhebungen von mir)[57] – Das erscheint in der Tat als historisch nicht unwahrscheinlich[58].

Hier liegt eine Schlüsselstelle für die Annahme eines möglichen historischen Ein­flusses auf Solon, denn er musste das ägyptische Ma’at-Konzept – und die erwähnten ägyptischen Einzelgesetze – oder allfällige mesopotamische Vorbilder vor dem Erlass seiner Reformen kennengelernt haben, um durch sie beeinflusst worden zu sein. Auf welche Weise auch immer. Und diesbezüglich unterscheiden sich offenbar die Geister[59]. Allein die Dichte der Quellenlage – vgl die Hinweise in Anm 51 – legt die Annahme nahe, dass Solon in Ägypten war. Nach der überwie­gen­den Mehrzahl der Quellenbelege besuchte Solon Ägypten aber erst, als er nach Abschluss seiner Gesetzgebung Athen verließ. Das schliesst nicht mit Sicherheit aus, dass Solon nicht dennoch schon früher in Ägypten war – zumal Plutarch erwähnt, dass er als weitgereister Mann zum Archonten bestellt wurde. – Fadinger hätte sich dazu äußern sollen, wie Solon zur Kenntnis ägyptischer oder anderer Texte gekommen sein konnte.

  • In der Folge entwickelt Fadinger seine These, dass Solons Konzept der Euno­mia aus der ägyptischen Gerechtigkeitsidee der Ma’at abgeleitet sei: Ma’at sei die kosmisch inspirierte Ordnung, die der Un-Welt der Un-Ordnung/Isfet gegenüberste­he[60]. – Zentraler Gedanke der Ma’at-Lehre sei es, „dass Staat und Recht um der Armen und Schwachen willen da sind“[61]. Und auch Solon betone dies[62]. Ma’at ge­hö­re – wie die ihr entsprechenden Begriffe aus den übrigen sakralen und absoluten Monarchien Vorderasiens und Altindiens – als oberste Norm des Rechts und der Moral zu einem Typus der sozio-politischen Herrschafts-Organisation, den Fadin­ger schon in einer früheren Arbeit[63] im Anschluß an J. Assmann[64] „Schöpfungs­herr­schaft“ bezeichnet hatte.

Fadingers Hinweis leidet ua daran, dass gerade für die Zeit um 700 v. C. – denn er behauptet, wie wir sehen werden, unnötigerweise auch einen (unmittelbaren?) ägyptischen Einfluss auf Hesiod und Homer, anders als früher und später – (wegen der assyrischen Fremdherrschaft über Ägypten) offenbar keine namhaften griechi­schen Kontakte mit Ägypten bestanden haben! Die politische Lage Ägyptens unter­streicht dies. Zu einer gewissen Stabilität gelangte Ägypten erst wieder unter König Psammetich I (664-610 v. C.), der dem Land nochmals wirtschaftliche Stabilität ver­schaffte und auch für einen kulturellen Aufschwung sorgte. Erst Psammetich ge­lang es, Ägypten wiederum unabhängig zu machen und der assyrischen Herrschaft zu entziehen[65].

Fadingers Ausführungen wurzeln – wie meine Kenntnisse über die Ma’at – vor­nehmlich in Assmanns Monographie über die Ma’at (19952). Das ist nicht zu ta­deln. Auffallend erscheint aber, dass Assmanns differenzierte und subtile Ausfüh­run­gen und Ergebnisse reduktionistisch rezipiert werden, was Fadingers Argumen­ta­tionsbasis schwächt und dazu führt, dass manche – mE nicht unbedeutende – Pa­rallele außer Acht bleibt. Mögliche Verbindungen Solons zur Ma’at-Lehre beste­hen nämlich weit über die von Fadinger genannten Beispiele und Argumente – die nicht alle überzeugen – hinaus; etwa im wichtigen Bereich des Erbrechts[66]:

  • Die im Laufe ihrer Geltung einer beachtlichen inneren Entwicklung unterlie­gen­de Ma’at-Lehre betraf nämlich schliesslich nicht nur das gerechte Leben vor dem Tod, sondern auch das Leben danach. Ma’at ist nach Assmann (Ma’at 92 ff) das „Prinzip der todüberwindenden Beständigkeit“; Assmann führt (aaO 92 f) die entscheidenden Texte (etwa die 5. Maxime der Lehre des Ptahhotep oder Teile aus den Klagen des Oasenmannes) an. Das läuft nach Assmann auf die Sentenz hinaus: „Unrecht Gut gedeiht nicht gut“. In den Lehren des Ptahhotep, aber auch in den Kla­gen des Oasenmannes werde „die Frage der Fortdauer [sc des Verstorbenen] mit der Möglichkeit der Vererbung des Besitzes verknüpft“. – Hier besteht also ein Über­gang der Religion in den Bereich des Rechts und der irdischen Justiz, denn für den Erbgang und die damit verknüpfte Sicherung des Totenkults seien die irdischen Gerichte zuständig gewesen und der „Gedankengang“ dabei war folgender (Assmann, Ma’at 94):

„Der Erbe ist zum Totenkult verpflichtet[67]. Daher ist die Vererbbarkeit eines Vermö­gens eine gewisse Garantie für das Fortdauern im Totenreich“ (Hervor­he­bun­gen von mir).

  • Deshalb wurde rechtlich die Möglichkeit geschaffen, testamentarisch, also letzt­willig, verfügen zu können. Wir stehen hier vor den ältesten Wurzeln der letzt­wil­ligen Verfügung (von Todes wegen), dem Testament, als Misch­ge­schöpf/Syn­the­se von Religion und (privat)rechtlicher Verfügung, wobei der religiöse Zweck zunächst überwog und das Recht bloß als Mittel zu diesem höherem Zweck anzu­se­hen war. – Die Fortdauer im Totenreich war an den Totenkult gebunden, der wie­de­rum rechtlich (nur) durch die Erben sichergestellt werden konnte und sollte. Daher die Möglichkeit des Testaments, dessen Errichtung daher einer strengen Formp­fllicht unterlag; die Errichtung musste nämlich „im Wesirsbüro vom Wesir persön­lich gesiegelt werden ..., sodass – wie Assmann folgert – die Vererbung einem Offen­­barungseid gleich[kam]: Unrecht Gut vererbt sich nicht“[68].
  • Hier scheint sich der Kreis mit Solons Gesetzgebung zu schliessen, denn es war Solon, der gesetzlich erstmals die Möglichkeit der testamentarischen Verfü­gung (wenn auch zunächst nur bei kinderlosem Nachlaß) geschaffen hat[69] und – gleich­sam als Vorstufe dazu darüber hinaus – die Vorschriften für die Epikleros erstmals schriftlich gefasst und inhaltlich offenbar modifizierend geklärt hat. Hier (d. h. im archaischen Attika) wie dort (d. h. im alten Ägypten) stehen – was nicht weiter überrascht – früher Erbgang und Totenkult in enger Verbindung und es ist in beiden Fällen das (Privat)Recht das die religiös-sittlichen Vorstellungen schützt und ihre Umsetzung mittels Testament ermöglicht. – Allein Beweise im strengen Wort­sinn für einen ägyptischen Einfluß auf Solon lassen sich auch dafür nicht erbringen, aber die Summe der Wahrscheinlichkeiten wird durch diese weitere Parallele noch erhöht; es sei denn, man ist geneigt, das Wirken des historischen Zufalls (über Ge­bühr?) zu strapazieren.

Es wurde eben erwähnt, dass der ägyptische Einfluss vielleicht auch noch an­de­re Bereiche der solonischen Gesetzgebung beinflusst hat, die bisher unbeachtet ge­blie­ben sind. Zu nennen sind hier – ohne dass damit ein Anspruch auf Voll­stän­dig­keit gestellt und diese Bereiche diesbezüglich hier näher untersucht werden können – die Entdeckung und religiöse, rechtliche und (wohl erst in Griechenland auch) po­li­tische Förderung des Einzelnen, die – vom religiösen Bereich[70] ausgehend, allmäh­lich auch die anderen genannten Bereiche (nämlich Recht und Politik) erfasste[71].

  • In diesem Kontext ist auch eine spezifische Ausformung der solonischen Ge­setz­gebung zu erwähnen: nämlich die ausdrückliche Anordnung Solons, über Tote nicht schlecht zu reden – worin die Wurzel unserer in latinisierter Form erhaltenen Sentenz liegt: de mortuis ni(hi)l nisi bene. Diese Anordnung wurde zur Keimzelle eines postmortalen Persönlichkeitsschutzes, der eine erstaunliche Rezeptionsge­schi­chte aufweist. – Das Nicht-schlecht-über-andere-Reden, war aber auch ein wichti­ger Aspekt der ägyptischen Ma’at, und das galt gegenüber Verstorbenen in beson­de­­rem Maße; wurde in Ägypten doch dem persönlichen Totenkult die größte nur vorstellbare Aufmerksamkeit geschenkt[72].
  • Im Zusammenhang damit gilt es auch auf den großen Respekt der Ägypter vor der Macht des Wortes hinzuweisen, was Assmann zu recht hervorhebt[73]:

„Verleumdung, Lästerung, Beschimpfung, Streit, Geschrei und natürlich auch Lü­ge waren ihnen ein Greuel. Der König wurde rituell geschützt gegen üble Nach­re­de, und die Menschen beteten zur Gottheit ‚um Errettung aus dem Munde der Menschen’ [Lehre des Amenemope]. Vor allem gehörten hierher die in ihrer Menge und Differenzierung höchst auffallenden Zungen-, oder besser, Kommunika­tions­sün­den, die das 125. Kapitel des Totenbuchs aufzählt“[74].

Dieser ‚Respekt vor der Macht des Wortes’ und die Freude an schöner Spra­che[75] könnte auch als Vorbild für das spätere literarische und rhetorische Schaffen in Griechenland gedient haben; weniger für Solon selbst, als für spätere Genera­tio­nen. – Die Rede war also nicht erst in Griechenland geschätzt, sondern schon in Ägypten. Sie diente dazu, um den Gemeinsinn zu pflegen und zu entwickeln und der Redefertigkeit haftete (daher) nichts Negatives an, diente sie doch einer guten Sache. Assmann[76] bringt dafür Beispiele. Ein eindrucksvolles stammt aus der Lehre für Merikare, einem Text des Mittleren Reichs, der bereits in der 9./10. Dynastie (nach 2120 v. C.) entstanden sein soll[77]:

„Sei ein Meister im Reden, um stark zu sein! Der Schwertarm eines Königs ist seine Zunge. Die Rede ist mächtiger als der Waffenkampf“.

Ma’at verlangte, um den Gemeinsinn zu fördern und zu bewahren, das „Aufei­nan­der-Hören“ und das „Zueinander-Reden“. Als drohende Gefahr gilt der Verlust an Gemeinsinn[78]. – Diese Warnungen tauchen idF, wenngleich um vieles später, in grie­chischem Kontext bei Solon auf!

  • Ein weiterer Bestandteil der Ma’at, der (später) als Vorbild gedient haben konnte, war die Milde im Umgang mit und im Urteil über andere. Assmann zitiert aus dem Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba[79]. In diesem Text ist davon die Rede, dass die „Milde“ durch Gewalt (Bia und Hybris im Griechischen!) zugrunde geht und „Unrecht“ durch’s Land zieht; der Text, der in manchem Detail an die so­lonische Dichtung erinnert, besitzt demnach auch eine rechtliche Dimension. – Die Gefahren der Hybris spielen bereits bei Solon eine Rolle (und das Interesse daran hielt in der griechischen Kultur bis zuletzt an). Die Griechen thematisierten im Zu­sammenhang mit der Hybris schliesslich die Epieikeia, die lateinische aequitas, unse­re Billigkeit[80], die offenbar ebenfalls eine ägyptische Vorläuferin in Gestalt der Ma’at gehabt hatte.
  • Eine weitere auffallende Gemeinsamkeit zwischen ägyptischer Ma’at und so­lonischer Eunomia besteht in der zentralen Stellung, die dem Recht in beiden Kon­zep­ten zukommt. – Dem bei Solon so hervorstechenden Grundgedanken könnte dur­chaus eine Rezeption aus dem alten Ägypten zugrunde liegen.
  • Die Ma’at-Lehre thematisierte auch die „Ungleichheit unter den Menschen“ und beurteilte sie nach Assmann[81] negativ: „In einer Welt, die in Arme und Reiche, Starke und Schwache, Unterdrücker und Unterdrückte zerfällt, gilt von Natur aus das Recht des Stärkeren. Diesem ‚Recht’ arbeitet die Ma’at entgegen“. – Assmann erwähnt anschliessend, dass sich „mit dem Begriff der Ma’at die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit verbindet, die die Reichen dazu verpflichtet, sich der Armen anzunehmen. ...; die Ungleichheit der Menschen wird durch das Prinzip der Ma’at nicht legitimiert“[82]. Aber die bestehende Ungleichheit unter den Menschen wird nach Assmann durch das Ma’at-prinzip „auch nicht abgeschafft, es wird ihr vielmehr in einer Weise entgegengearbeitet, die sie voraussetzt. Ma’at bezeichnet das Prinzip einer ‚vertikalen Solidarität’, die von oben nach unten und von unten nach oben wirkt: als Schutz, Verteilung und Wohltätigkeit nach unten, als Gehor­sam und Loyalität nach oben“[83].

Ich darf hier daran erinnern, dass Solon ebenfalls eine so verstandene Gleichheit der Bürger nicht nur verbal in seiner Dichtung vertrat, sondern als Gesetzgeber auch bereits erste namhafte Schritte setzte, mag damit auch noch nicht eine voll­stän­dige politische Gleichheit der Bürger erreicht worden sein. Solon gilt übrigens auch als ‚Erfinder’ der Unterscheidung zwischen austeilender und ausgleichender Ge­rechtigkeit (A. Verdross). – Und auch Solon bewertete die Ungleichheit negativ und setzte kompensatorische Massnahmen und er integrierte erste bedeutende (po­li­tische) Gleichheitspostulate in sein Gesellschaftskonzept der Eunomia! – Ich be­haupte damit nicht, dass Solon all das aus Ägypten übernommen hat, aber Anre­gun­gen sind nicht auszuschliessen, ja sie erscheinen nahe liegend. Bleibt noch offen, wie dieses Wissen nach Griechenland gelangt ist.

Doch genug der unsicheren und andeutungsweisen Hinweise auf mögliche ägy­pti­sche Vorbilder. Allein hier hätten weitere Untersuchungen anzusetzen. Wir kön­nen aber auch aus diesen unsicheren Annahmen entnehmen, dass Ägypten für spä­te­re Kulturen – insbesondere die Griechen – eine Fülle von Anregungen nicht nur auf religiösem, sondern auch auf normativ-rechtlichem Gebiet aufbereitet hatte. Das lässt Transfers und Rezeptionen nicht unwahrscheinlich erscheinen, zumal auch schon frühe kulturelle Kontakte zwischen Ägypten und dem ägäischen Raum be­stan­den haben[84]. – R. Rollinger und Ch. Ulf meinen[85]: „Es ist offenkundig, dass sich Kontakte zur orientalischen Welt nicht nur auf die orientalisierende Phase des 8. und 7. Jahrhunderts einengen lassen, sondern in wechselnder Intensität von den frü­hen Dark Ages bis in Klassische Zeit hineinreichen“. Und dieselben Autoren halten dafür, dass der orientalische Einfluss auf die griechischen Gesellschaften und Kulturen „nach wie vor unterschätzt“ wird[86]. – Ich teile diese Meinung.

 

  1. Der Eunomia-Gedanke bei den Griechen

Die von Fadinger angebotenen Belege und Argumente deuten – trotz ihrer Un­vollständigkeit – in die Richtung, dass seine Ma’at-These wissenschaftlich ernst ge­nommen werden sollte. Einmal abgesehen davon, dass Ergänzungen vorgenom­men und Schönheitsfehler beseitigt werden müssen, sollten Fadingers Eunomia-Über­le­gun­gen weiterverfolgt und vertieft werden. – Überraschend für mich war es daher fest­stellen zu müssen, dass Fadingers Publikation aus dem Jahre 1996 bislang offenbar keine sichtbare Diskussion ausgelöst hat[87]. Und zwar auch dort nicht, wo das Thema – wie bei W. Schmitz – unmittelbar angesprochen wurde[88]. – Woran liegt das? Wurde hier an einem wissenschaftlichen Tabu gerührt? Oder wurden diese ins Rechtliche weisenden historischen Fragen nicht als attraktiv genug emp­fun­den? Der erwähnte Befund könnte aber auch damit zusammenhängen, dass Fa­din­gers Arbeit im Hinblick auf zentrale historische Fragestellungen noch als zu un­voll­ständig betrachtet wurde, womit folgendes gemeint ist:

  • Abgesehen davon, dass es Fadinger mit den von ihm angeführten Rezeptions­bei­spielen des solonischen ‚nomos árgias’ und der ebenfalls solonischen ‚Sei­stacht­heia’ wohl noch nicht zu belegen gelungen ist, dass diese wirklich aus Ägypten stam­men, weist auch Fadingers Zentralthese von der Übernahme des Eunomia­ge­dan­kens durch Solon aus Ägypten Schwächen auf. Denn Fadinger macht den zen­tra­len historischen Begriff der ‚Eunomia’ zu ausschließlich an Solon fest, als hätte die­ser Begriff erst ab Solon existiert. Dem ist aber nicht so. Der Begriff ist nämlich nach­weislich älter und kommt – wie übrigens Fadinger selbst, wenn auch zu kurz und ohne weiteres Befassen damit, einräumt – schon bei Homer und Hesiod (Theo­go­nie 901 ff)[89] vor.
  • ‚Eunomia’/die gute Ordnung ist bei Hesiod eine der drei Horen (neben Dike, dem Recht und Eirene, dem Frieden), die Töchter von Zeus und Themis sind. Eu­no­mia verkörperte nach Fritz Gschnitzer (in: Lexikon der Alten Welt I Spalte 915) ein „vergöttlichtes Ideal griech. Lebens- und Staatsordnung. Man dachte dabei an eine festgefügte, gerechte Ordnung, die die Bürger in strenger Zucht hielt und Frieden, Wohlstand und Stärke des Gemeinwesens verbürgte“. – Mögliche Bezüge über Griechenland hinaus fehlen.
  • Darüber hinaus geht Fadinger auf die hier beachtlichen Fragen von Recht und Gerechtigkeit als Grundlagen menschlicher Gesellschaften bei Homer und Hesiod – auf denen Solon zweifellos aufbaute – nicht ein. Auf andere antike Autoren wie den wohl aus Sparta stammenden Tyrtaios, er lebte im ~ 7. Jh. v. C.: Fragment 3, der den Begriff ebenso kennt wie der wesentlich jüngere Pindar (~ 520-nach 446 v. C.)[90] uam, wurde von Fadinger nicht hingewiesen. – Fadinger weist in seinem Eu­no­miaaufsatz erst sehr spät und zudem nur nebenbei (aaO 207 Fn 107) darauf hin, dass schon W. Jaeger und K. Alt „die Ansicht vertraten, dass Solon die in den Ver­sen 1-5 der ‚Eunomia-Elegie’ vorliegende ‚Theodizee’ derjenigen von Homer nach­ge­staltet“ habe. Fadinger scheint diese Meinung zu teilen, was nicht unwider­spro­chen bleiben kann: In der Odyssee (I 32-43 iVm XVII 487) findet sich nämlich bloß das Wort „’ευνομίην“, und zwar in einem allgemeinen Sinne von wünschenswerter Rechtstreue des Menschen gebraucht[91]. – Das reicht bei weitem nicht hin, um ein weitläufiges gesellschaftliches (Gesamt)Konzept, gedacht als rechtlich-soziale Grun­d­or­dnung eines Gemeinwesens, daraus abzuleiten[92].

Der daraus von Fadinger gezogene Schluß erscheint mir aber noch fragwür­di­ger. Wir lesen bei ihm:

„… glaube ich, dass sowohl Homer wie Solon auf eine gemeinsame Quelle, nämlich die ägyptischen Weisheitstexte, zurückgehen“.

Das ist in Bezug auf Homer fragwürdig; und Hesiod wird hier von Fadinger – vielleicht in der Annahme seiner Homergefolgschaft – übergangen. Aber auch He­siods Eunomia-Verständnis (in der Theogonie) ist kaum substanzieller als das Ho­mers und bedurfte erst eines (erweiterten) Inhalts, der von Solon nachgereicht wur­de; wohl unter teilweiser Verwendung ägyptischer Ma’at-Vorstellungen. Homer und Hesiod wurden dabei von Solon offenbar als normative Hülsen oder Gefäße ver­wendet, um die neuen Inhalte aufzunehmen. Es ist der sprichwörtlich neue Wein, der in alte Schläuche gefüllt wurde. – Hier liegt eine argumentative Schwach­stelle Fa­din­gers, die es – wenn wir einen ägyptischen Einfluss nicht abtun wollen, was auf­grund der historischen Fakten mE auch nicht besser wäre – nachzubessern gilt; denn ein namhafter ägyptischer Einfluß auf Homer ist bislang nicht nachgewiesen, mö­gen mittlerweile auch Einflüsse aus dem Nahen Osten als gesichert gelten[93]. Zudem – und das wiegt schwerer – ist das homerische und hesiodsche Verständnis der Eunomia noch ein anderes, inhaltlich unentwickelteres.

Dazu kommt, dass Fadinger weder zur Homerchronologie, noch zum Zeit-Ver­hältnis von Homer und Hesiod und zu jenem von Solon und Hesiod etwas ausführt. Letzteres teilt er allerdings mit sehr vielen Wissenschaftlern, die gerne die Hesiod­da­tierung offenlassen (und von einer Parallelverschiebung mit Homer ausgehen. Ein zuletzt weitverbreitetes zeitliches ‚Herabdatieren’ der Abfassung der homeri­schen Epen – etwa um 700 oder gar zwischen 650 und 700 v. C. – erhöht aber viel­leicht sogar den Möglichkeits-, ja Wahrscheinlichkeitsgrad eines ägyptischen Ein­flus­ses, denn in dieser Zeit (der beginnenden orientalisierenden Epoche) scheint der ägyptische Einfluß auf die Griechen tatsächlich in beachtlichem Ausmasse festzu­ste­hen[94]. – Hier gilt es noch nach weiteren Spuren und Belegen zu suchen und vor­han­denes Wissen hermeneutisch gründlicher aufzubereiten und zu analysieren.

Die bei Fadinger angeführten Belege sind bislang zu ‚dünn’, um wirklich etwas beweisen zu können, mag auch historische Plausibilität für manche seiner Aussagen sprechen; vgl etwa aaO 199: „Dass zwischen griechischen Poleis und Ägypten ein re­ger Handels- und Gedankenaustausch stattfand, bezeugen nicht nur diese litera­ri­schen Zeugnisse und Solons eigene Worte, sondern auch der archäologische Be­fund. Über 1500 ägyptische Gegenstände der geometrischen und archaischen Epo­che wurden aus der griechischen Erde ausgegraben“.

Fadingers Argumentation leidet auch daran, dass sie zu selbstreferentiell vor­geht und im Stile einer selffulfilling prophecy agiert. Das zeigt sich etwa an folgen­der Textstelle[95]:

„Es kann nach den bisherigen Ausführungen kein Zweifel mehr bestehen, dass Solon die höchste Norm und den umfassenden Ordnungsbegriff der altorientali­schen ‚Schöpfungsherrschaft’ in der ägyptischen Variante von Ma’at mit Eunomia ins Griechische übersetzte [?][96] und ihm mit Dysnomia [!] das griechische Äqui­va­lent zu ägyptisch Isfet gegenüberstellte“. – Fadinger fügt dieser Aussage im Anschluß noch hinzu: „Es wäre auch erstaunlich, wenn der griechische Gesetzgeber [sc Solon] bei seinem Studium der ägyptischen Gesetzgebung nur einzelne Gesetze und die Modalitäten ihrer Publikation, nicht aber die höchste Rechtsnorm [?] und das universale Ordnungsprinzip übernommen hätte, die beidem zugrunde lagen“. – Auch dieses Argument steht auf tönernen Beinen!

Man fragt sich nach diesen Sätzen, wo Fadingers eigene Hinweise auf Homer und Hesiod geblieben sind. Denn eine ‚Übersetzung’ des Begriffs ‚Eunomia’ war nicht mehr nötig, er ist ja schon homerisch und auch Hesiod bekannt.

Will man Fadingers These nicht verwerfen, muss festgehalten werden: In Frage kommt nur ein Ausbau, eine inhaltliche Vertiefung und Ergänzung vorhandener An­sätze und nicht ein völliger Neubeginn. Diese historisch realistischere Weichen­stel­lung vorzunehmen hat Fadinger versäumt.

Offen gesagt: In mir regt sich kein Widerstand, hier eine (Teil)Rezeption anzu­nehmen, wohl aber gegen die Art und Weise, wie hier versucht wurde, diese keines­wegs unbedeutende These wissenschaftlich zu präsentieren.

Solon machte sich danach – so Fadinger (aaO 202) – das „wichtigste Axiom der ägyptischen Staatslehre zu eigen“:

„Ohne den Staat herrscht nicht Ma’at/Eunomia auf Erden, sondern Isfet/Dys­no­mia. Was Isfet ist, erfahren wir aus den sogenannten ägyptischen Chaos­besch­rei­bun­gen. Im moralischen Kontext reden vom Chaos die ‚Klagen’ der Weisheits­li­te­ratur, im politischen die Königsinschriften und Gesetzestexte, wenn sie Epi- und/ oder Prolog die rechtspolitische Begründung für die Notwendigkeit der Gesetzes­ko­di­fikation geben“.

Für Fadingers These von Bedeutung ist sein Hinweis, dass die ägyptische Lehre der Ma’at iVm der Weisheitsliteratur und den ‚Klagen’ immer dann besonders be­tont wird, wenn Umsturz, Chaos, Bürgerkrieg udgl. drohen oder schon eingetreten sind. Und das sei auch der Handlungsrahmen Solons gewesen[97].

Fadinger weist (aaO 203) darauf hin, dass es in der ägyptischen Spätzeit der XXVI. Dynastie der Saiten (664-525 v. C.) zur intensivsten Begegnung von Grie­chen und Ägyptern gekommen sei, und auch damals noch die „alte Tradition der Weisheitslehren über Ma’at und Isfet intensiv gepflegt“ worden sei, was E. Otto (Die biographischen Inschriften der ägyptischen Spätzeit, 1954) überzeugend nach­ge­­wiesen habe. – Dem ist beizupflichten, nur spricht das eher gegen frühere ägypti­sche Einflüsse auf die ‚Griechen’, insbesondere auf Homer und Hesiod. Gleich­zei­tig würde dadurch ein vor-solonischer ägyptischer Einfluß bspw auf Drakon (und zu­vor vielleicht schon auf den Delphischen Apollon) verständlicher.

Fadingers Ausführungen sind trotz gewisser Einwände von historischem Inte­res­se und verdienen ua aus rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Gründen Beachtung: Man wüsste aber gerne mitunter etwas mehr. Etwa warum und wie Hesiod und Homer ägyptische Weisheitslehren übernommen haben könnten?

 

  1. W. Schmitz’s Beitrag zur Gesetzgebung Solons

Fadinger erblickt zutreffend in der bestehenden politischen Instabilität (Gesetz­lo­sig­keit, Chaos, erneut drohender Bürgerkrieg etc) eine Parallele zwischen den ge­sellschaftlichen Rahmenbedingungen von Solons Gesetzgebung und dem Entstehen und der Weiterentwicklung der Ma’at-Lehre; für die Ma’at-Lehre traf diese Fest­stel­lung schon Assmann. – Auf der anderen Seite wissen wir mittlerweile durch W. Schmitz[98], dass Solon größtenteils altes bäuerliches Gewohnheitsrecht ‚kodifi­zier­te’. Und zu dieser solonischen Normgruppe gehörte auch der nomos árgias. Es dür­fte sich dabei um die Normierung von bestehendem bäuerlichem Gewohnheitsrecht ge­handelt haben, das bei dieser Gelegenheit eine Erweiterung seines Anwendungs­be­reichs erfuhr, nicht aber um eine völlige legistisch-inhaltliche Neuschöpfung. Da­durch wird zumindestens eine ausschliesslich ägyptische Rezeption dieses Gesetzes – und zwar für Solon, Drakon und Peisistratos, denn sie alle wurden als Schöpfer des nomos árgias genannt, ausgeschlossen; nicht dagegen eine weniger weit rei­chende Überlegung im Sinne einer Teilrezeption. – Ich führe idF Belege aus dem Buch von W. Schmitz an, um die historische Lage dieser Einzelfrage weiter abzu­klä­ren. Ich beschränke mich dabei auf das Notwendige[99]:

  • „Die Quellen zum ‚Gesetz über Untätigkeit’, zum nomos argias, sind spärlich und widersprüchlich. Die beiden frühesten Belege stammen von Lysias. Aus einem Fragment seiner Rede gegen Ariston geht hervor, dass Drakon das Gesetz über Untätigkeit erlassen hat, Solon aber nicht den Tod als Strafe festgesetzt hat wie jener, sondern die Atimie, wenn einer dreimal der Tat überführt wurde, und eine Strafe von 100 Drachmen, wenn er einmal überführt wurde“[100]. – Schmitz zieht da­raus den Schluß: „Wir können diesen Belegen entnehmen, dass sowohl das drakon­ti­sche Recht als auch das solonische Recht Bestimmungen über argia enthielten und dass das gerichtliche Verfahren eine graphe und nicht eine dike war, also ‚Popu­lark­lage’ galt[101]. Der Kontext bei Diogenes Laertios deutet außerdem darauf hin, dass durch dieses Verfahren das Hausvermögen geschützt werden sollte“.
  • Und: „Dass Solon alle Gesetze Drakons mit Ausnahme des Gesetzes über die Tötung aufgehoben habe, ist eine Fiktion. Denn Drakon hat keine alle Lebens­be­rei­che umfassende Rechtsordnung geschaffen, sondern mit seinem Gesetz allein die Blut­rache geregelt“. – Schmitz kommt jedoch zum Ergebnis: „Der nomos argias als eigenständiges Gesetz über die Untätigkeit geht also auf den Gesetzgeber Solon, nicht auf Drakon zurück. Wohl aber enthielt das Gesetz Drakons über die Tötung eine Bestimmung, dass unter bestimmten Voraussetzungen die Tötung eines ‚Untä­ti­gen’ ungesühnt bleiben sollte, nämlich wohl dann, wenn er für ‚ehrlos’ erklärt wor­den war. Diese Bestimmung hatte auch in der Zeit nach Solon weiterhin Bestand. Im nomos argias regelte dann Solon das Delikt der Untätigkeit als solches, und die oben angeführten Quellen belegen, dass es ein differenziertes Recht war, das die Strafen nach der Häufigkeit des Vergehens bemaß“.
  • Schmitz erwähnt in diesem Kontext auch Herodots Bericht (II 177, 2) und Dio­dors Hinweis (I 77, 5), wonach Solon das Gesetz aus Ägypten (Amasis) über­nom­men habe, ohne darauf einzugehen und Fadingers Arbeit zu erwähnen, was der Sa­che auch nicht gerecht wird. – Schmitz bemerkte nur: „Man wird davon auszu­ge­hen haben, dass in Athen nicht wie in Ägypten die Rechtschaffenheit der Arbeit bei jedem und in jedem Jahr überprüft wurde, sondern dass nur auf einen Verdacht, eine Anzeige oder eine Klage hin der Verdächtige vernommen wurde“[102].

Viel klüger wird man daraus im Hinblick auf unsere Fragestellung auch nicht, zumal Schmitz einen ägyptischen Einfluss ausblendet. – Man kann dazu festhalten, dass Fadingers zentrale Rezeptionsthese der Eunomia an und für sich davon unab­hän­gig ist, ob der nomos árgias und die solonische Seisáchtheia aus Ägypten oder Me­sopotamien stammen oder nicht, wenngleich ein solcher Nachweis günstig auch für die Zentralthese einer (teilweisen) Übernahme des Eunomia-Gedankens aus Ägyp­ten wäre.

 

  1. Resümee

Neben den bereits erwähnten – mehr oder weniger wahrscheinlichen oder doch möglichen – Einzel-Rezeptionen oder -Transfers aus dem Alten Ägypten ins archai­sche Griechenland, soll noch versucht werden, auf der von Jan Assmann und ande­ren erarbeiteten ägyptologischen Grundlage der Ma’at, eine Aufstellung grund­sätz­li­cher Parallelen der beiden gesellschaftlichen Steuerungsmodelle zu erstellen. In die­sen Rahmen könnten künftig ‚kleinere rechtshistorische Baukastenteile’ ein­geord­­net wer­den, um schließlich ein tragfähiges Gesamturteil zu ermöglichen oder zu erleichtern.

(Weitere) Parallelen zwischen der ägyptischen Ma’at und Solons Eunomia[103]

  • Wie die Ägypter bediente sich auch Solon der literarischen Form, um seine Reformpläne zu unterbreiten. Solon steht in der Tradition der Weisheits- und Chao­s­li­teratur. Die Ma’at-Literatur war Weisheits-, und Chaos-Literatur[104]. Wie für die (von den Erfahrungen der Ersten Zwischenzeit gespeisten und sich daraus ent­wick­el­nden) Weisheitslehren der Ägypter, war es auch Solons Aufgabe eine neue Ord­nung zu finden und einzurichten; als deren Eckpfeiler dienten ihm die verschie­de­nen Werte seiner Eunomia: Freiheit, weitgehende Isonomia, Einbindung aller in eine solidarische Gemeinschaft, Erstehen und Absicherung des Einzelnen, was nö­tig war, um ein funktionstaugliches politisches Teilhabekonzept an der Polis und ihren Institutionen auf den Weg zu bringen. Die ‚Geburt’ des Einzelnen gelingt in Ägy­pten wie später im solonischen Athen offenbar erst nach dem Zusammenbruch der bisherigen Ordnung: Dabei wird in Griechenland bereits stärker als im Alten Ägy­pten, die Machtpyramide vom Kopf (= der Herrschaft Einzelner oder Weniger) auf die Füße (= Macht des Volkes) gestellt. In Ägypten bleibt der König zwar unan­ge­foch­ten an der Spitze, doch auch er wird nunmehr in die Regeln der Ma’at ein­ge­bun­den, und dadurch zu einem den allgemeinen Regeln unterworfenen Primus inter pares.
  • Was diente nun der Ma’at und idF Solons Eunomia als Bewertuungsmaßstab? – Der Maßstab beider Konzepte lag in jenen Gesellschaftswerten, die für ein fried­li­ches und solidarisches Zusammenleben der Menschen eines Gemeinwesens nötig wa­ren; was modifiziert und ergänzt werden konnte. (Damit war die Rechtsidee ge­bo­ren!) – Ma’at und Eunomia repräsentierten gesellschaftliche Grundwerte in der Form einer verknappten Generalklausel; es waren keine explizit ausformulierten Ge­setze. Solons Einzelgesetze sind aber wohl als exemplarische Ausformungen sei­ner Eunomia zu verstehen[105].
  • Assmann[106] weist darauf hin, dass die Regeln der Ma’at als ‚Kanon’ – „im ursprünglichen griechischen Sinne des Wortes“ zu verstehen gewesen sei. Dabei sei­en im Sinne der alten ägyptischen Tradition des „Negativen Sündenregister“ vor­neh­mlich jene Werte thematisiert worden, die es zu vermeiden galt: ‚Ich habe nicht ge­logen, keinen Tempelbesitz gestohlen, nichts Krummes getan, keine Men­schen ge­tötet, Gott nicht gelästert, nicht Unzucht getrieben, habe mich nicht aufge­bla­sen/ überhoben (Hybris!)’ usw[107]. Daneben geht es in anderen Texten um den Kampf gegen Ungleichheit, Schutz und Hilfe für Arme und Schwache, das Ver­mei­den schlechter und anschwärzender Rede, die Ehrung von Vater und Mutter, die Pfle­ge des Gemeinsinns (Kunst des Zuhörens, vor allem für Rechtsberufe!), das Ver­meiden von Habgier, Gewalt/Bia, das Walten von Milde/Billigkeit (Epieikeia), das Vermei­den von Verleumdung, Lästerung, Beschimpfung, Streit, Geschrei und Lüge uvam.

Nahezu alle diese Werte fanden auch in der solonischen Dichtung und Gesetz­ge­bung Berücksichtigung. – Und Solon bediente sich ebenfalls der ‚Negativtechnik’ und stellte – wie die Ägypter – diesen Negativwerten Eunomia positiv gegenüber: Er brandmarkte die Torheit der Bürger, deren ungerechten Sinn, ihren Luxus und Überfluß, ihre Habgier, die auch vor öffentlichem und Tempelgut nicht Halt mache, ihre mangelnde Ehrfurcht vor Dike, das schlimme Schicksal der Armen und Schwa­chen, den bürgerlichen Mangel an Recht uam. Dagegen stellt er seine Eunomia, die Ordnung schaffe, Böses Tun hemme, Hochmut (Hybris), Rohheit und Überfluss hin­dere, Unheil schon im Keim ersticke, Zwietracht vernichte, Streit glücklich been­de und niedergetretenes Recht wieder aufrichte usw.

  • Charakteristisch für Solons Vorgangsweise war es, dass er sich für sein neues Konzept eines alten, vorhandenen (bereits von Homer, Hesiod und Tyrtaios ver­wen­deten) Begriffs – der Eunomia, bediente, diesen jedoch mit neuen Inhalten füllte, was auch später für die Griechen typisch blieb. (Ich erinne an deren Umgang mit dem Kreditkauf.) Es war sprichwörtlich der neue Wein in den alten Schläuchen[108]. – Dieselbe Vorgangsweise attestiert Assmann (Ma’at 57) den Ägyptern im Umgang mit der Ma’at (nach dem Zusammenbruch des Alten Reichs), und er liefert dafür eine überzeugende Erklärung, wenn er die „Figur von Abkehr [sc von der alten Zer­fall­sepoche] und Rückgriff [sc auf erhaltungswürdige, wenn auch zu modifizierende Werte]“ als „klassische Grundvoraussetzung für jeden kodifizierenden und kano­ni­sie­renden Eingriff in Tradition“ versteht. – Dadurch wird der Eindruck von Kon­ti­nui­tät erweckt und der Wertewandel verkraftbarer und eine ideologische und wert­mä­ßige Neuorientierung wird dadurch eher möglich[109]. – Wie die literarischen Äußerungen zur (noch stärker religiös eingebundenen) Ma’at, bedeutete Solons Eu­nomia ein Plädoyer für ein Lebensführungskonzept (und nicht nur einen rechtlich-politischen Verhaltenskodex)[110].
  • Beide Gesellschaftsmodelle, das ältere ägyptische wie das wesentlich jüngere griechisch-solonische, verstehen sich als grundlegende Konzepte eines staatlich orga­nisierten menschlichen Zusammenlebens. Beiden Lehren geht es um Antworten auf die Frage, „was die Menschen zur Gemeinschaft verbindet“ (Assmann, aaO 13) und wie diese Gemeinschaft zu bewerkstelligen ist; [dafür gebe es – so Assmann (aaO 13) – in der Menschheitsgeschichte nur zwei Optionen: die eine fordere die „Ein­fügung des Einzelnen in ein vertikal oder hierarchisch organisiertes Ordnungs­ge­füge, die andere die prinzipielle Gleichheit aller in einer horizontal oder egalitär auf­gefassten Gesellschaft“[111]. – Für unseren Vergleich kann daraus folgendes ge­won­nen werden: Solons Leistung scheint darin bestanden zu haben, den möglichen ägyptischen Einfluss in die Richtung der Gleichheit (homo aequalis) – denn die Ma’at thematisierte Ungleichheit – weiterentwickelt und umgeformt zu haben; und dies unter Einbeziehung älterer griechischer Vorstellungen. Dabei wurde die eine Option noch nicht völlig gegen die andere ausgetauscht, sondern es kam zunächst nur zu einer Verbindung der (stark zurückgedrängten) vertikalen mit der (weithin ver­wirklichten) horizontalen Lösung, wobei die künftige Entwicklung in Richtung Egalität vorgezeichnet war[112].
  • Beide Konzepte treten – so Assmann für die Ma’at – „mit dem Pathos der Be­freiung“ auf. Für die Ma’at stellt Assmann (aaO 9) fest, bestehe die Unterdrückung, von der die Ma’at frei machen wolle, in der „Vergewaltigung des Schwachen durch den Starken“. – Das ist auch Solons Programm, wenngleich dieser seine Sei­sach­theia bereits prinzipiell stärker in Richtung politisch unverlierbare Freiheit als Vo­raus­setzung für das (auch eine bereits weit entwickelte politische Gleichheit vo­raus­set­zende) politische Teilhabekonzept aller männlichen Bürger verstand. – Solons Eu­nomia ist demnach bereits politischer und weniger religiös, das Ma’at-Konzept stär­ker religiös-ethisch und zudem mehr justiziell-gerichtlich orientiert. – Die Verwandtschaft beider Konzepte ist aber deutlich spürbar, das Programm, das frei­lich bereits mit unterschiedlichen Zielsetzungen erreicht werden soll, sogar noch wei­thin ident: Der Schutz der Schwachen gegen die Starken im Kontext gesell­schaft­licher Solidarität.
  • Beiden Konzepten geht es um (gesamt)gesellschaftliche Solidarität in welche neben den Einzelnen auch gesellschaftliche Gruppen einbezogen werden sollten. – Mit Assmann (aaO 9) lässt sich sagen, dass es beide Male um das „zivilisatorische Projekt der Zähmung des Menschen zum Mitmenschen“ ging; nur für Ägypten gilt Assmanns schöne Aussage, dass uns diese Entwicklung „hier in der Morgenfrische des ersten Males“ entgegentrete. – Für Solon war das Erreichen dieses Ziels aber ins­besondere auch im Hinblick auf die Polisbildung von Bedeutung, ging es dabei doch ganz wesentlich darum, die verschiedenen Gesellschaftsgruppen (Bauern, Ade­l­ige sowie die Aufsteigergruppen der Handwerker und Händler) zu einem ge­meinsamen politischen (!) Ganzen zusammenzuführen[113].
  • Als „geistige Grundlage dieser neuen ‚zivilen’ Form des Miteinander-Lebens“ von Menschen im Staate dienten beide Gesellschaftskonzepte – Ma’at und Eu­no­mia. – Wie uns Assmann (Ma’at 200 ff) gezeigt hat, war Ma’at/Gerechtigkeit (als ge­sellschaftliche Wahrheit und Ordnung) auch für das „Gelingen des politischen Prozesses“ von Bedeutung, was gerade für das archaisch-solonische Griechenland von Interesse war; Polisbildung. – Geradezu aristotelisch nehmen sich die von Ass­mann formulierten Grundsätze der ägyptischen Anthropologie aus: Der Mensch kann ohne Ma’at nicht leben und: Der Mensch kann ohne Staat nicht leben. Das zoon physei politikon steht hier bereits im historischen Raum, was auch von Assmann gesehen und angesprochen wird[114].
  • Die Ma’at-Doktrin war ebenso wenig wie Solons Eunomia-Lehre ein bloß rechtlich-formales Konzept, sondern sie waren beide politisch-ideologische Kon­stru­kte, die sich für ihre Zwecke des Rechts bedienten. Assmann[115] zitiert den schwe­dischen Ägyptologen und Religionswissenschaftler Jan Bergmann, der von ‚Ma’at-Ideologie’ sprach[116]. – Ma’at- und Eunomia-Konzept bedienten sich für die ge­sellschaftliche Umsetzung ihrer Ziele der „institutionellen Gestalt“ des Staates (Assmann). Für Ägypten war dies der Territorialstaat, für Solon der Stadtstaat, die Po­lis, deren Konturen sich zwar schon abzeichneten, deren innere Ausgestaltung aber durch Solons Reformen erst gefunden werden sollte. – Man kann mE – be­rück­sich­tigt man allein das bisher Gesagte – nicht davon sprechen, dass die Rahmen­be­din­gungen in beiden Staatswesen so unterschiedlich waren, dass eine Rezeption nicht in Frage kam. Zudem ist daran zu erinnern, dass Solon nur Teile der Ma’at übernommen haben dürfte.
  • Auch der Begriff der Eunomia ist wie jener der Ma’at ein „kompakter Begriff, der fasslich gebraucht werden kann. – Eunomia bedeutet (erst seit Solon!) – wie je­ner der Ma’at: „Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Weisheit, Echtheit, Au­f­rich­tigkeit“ (Assmann, aaO 9) und bezieht sich „auf Moral und Manieren im menschlichen Zusammenleben“, aber auch, was gesonderte Erwähnung verdient, ...
  • ... „auf die göttliche Gerechtigkeit“, die für Ägypten schliesslich mit dem allgemeinen Totengericht verbunden war, während Solon hier in die griechische Tra­dition einschwenkt und die überkommenen griechisch-religiösen Vorstellungen übernimmt: Die Gerechtigkeit des Zeus (iSv Lloyd-Jones) und seiner Substrate (The­mis, Dike und Verwandtes, Athene) unter Verwendung der Vorarbeiten Homers und vor allem Hesiods. – Die griechische Version der Ma’at, Eunomia, betonte eben­falls die Überwindung des Chaos durch den kosmosschaffenden höchsten Gott (Zeus, in Ägypten ist es der Sonnengott Re und dann auch noch Osiris) und die kos­mos-, also Ordnung schaffende Gesetzgebung seines irdischen Abbilds des Königs (Assmann), die von Solon in den politischen Teilhabegedanken des gesamten Vol­kes umgeformt wird.
  • Beide Konzepte erscheinen danach noch stark religiös ‚unterlegt’, wobei es für beide charakteristisch ist, die Übereinstimmung von Gott (Re, Zeus) und Natur sowie von Natur und Gesetzgebung zu suchen. – Bei Solon sind, schon aufgrund seines zeitlich viel späteren Auftretens, entsäkularisierende Tendenzen stärker; so die Betonung, dass die Bürger ihr Geschick selber in die Hand nehmen müssten. Aber auch bei Solon bleibt die moralisch-religiöse Rückbindung (re-ligio) an die Na­tur und die Götter stark. – Ich darf nochmals anmerken, dass bei Fadinger die ge­netisch-historisch wichtigen religiös-mythologischen Bezüge – vor allem die grie­chi­schen – fehlen.
  • Auch für Solons Eunomia gilt noch, was Assmann (Ma’at 18) für die Ma’at betont: „Im Begriff ... liegt ungeschieden beieinander, was später in Staats-, Moral-, Naturphilosophie und Theologie auseinandertreten wird“ (Hervorhebungen von mir).
  • Was für die Ma’at unzweifelhaft erscheint, gilt auch noch weithin für Solons Eu­nomia: Sie ist ein Teil der Religion: freilich ebenso – wie von Assmann (aaO 18) für Ägypten betont, „eine heidnische, sie ist weltbezogen, innerweltlich und um­fas­send“. – Wie die ägyptische, ist auch die griechische Religion als Traditions- oder Kulturreligion zu verstehen[117], denn die ihren Mitgliedern auferlegten Bindungen wa­ren allgemeinene Bindungen der Kultur und nicht ein verbindlicher Glaube an die Götter.
  • Was für einen ägyptischen Einfluss auf Solons Gesetzgebungswerk, aber wohl nicht nur dieses, spricht, ist der Umstand, dass die feststellbaren Übereinstim­mun­gen und Ähnlichkeiten nicht bloß einen oder wenige Einzelpunkte betreffen, die allen­falls auch autochthon erklärt werden könnten – wie bspw die von Fadinger angeführten Gesetze (der nomos árgias und die Seisachtheia), sondern eine Vielzahl (zusammenhängender) Parallelitäten und grundsätzlicher Verwandtschaften fest­zu­stel­len ist, was mE die Annahme von Parallelentwicklungen eher ausschliesst; mag das bisher auch noch nicht wahrgenommen worden sein.

Wenn sich überhaupt stichhaltige historische Beweise für eine namhafte Re­ze­ption Solons aus ägyptischen Quellen erbringen lassen, dann liegen diese mE vor­nehm­lich in den in Solons Werk auffindbaren ‚kleinen’ Indizien, die ‚Zufälle’ mE ausschliessen, etwa:

  • Der Annahme eines Gewissens, die in Solons Gedicht als „innere Stimme“ auftaucht[118];
  • Der auffallenden Übereinstimmung von Solons Stasis-Lehre mit ägyptischen Ma’at-Vorstellungen; die Stasis-Lehre kann mE nur in einem ägyptischen Kontext verstanden werden, was die bisherigen Erklärungsaporien hinlänglich beweisen. – Kurz: Die Ägypter[119] gingen von einer gespaltenen Weltordnung aus, in welcher die Tendenz zu Unrecht und Chaos (Isfet)[120] vorherrschend war und in der es Aufgabe der Ma’at und ihres Vertreters auf Erden – des Königs war, dies zu verhindern[121]: Und – „In der gespaltenen Welt gibt es keine Neutralität. Man kann das Gute nicht verwirklichen, ohne gegen das Böse einzuschreiten“.
  • Oder das – offenbar bereits drakontische[122] – aber auch noch bei den späteren Griechen anzutreffende[123] ‚ägyptische’ Verständnis des Affektvorsatzes, wonach Affe­kte dem zugerechnet wurden, der sie hervorgerufen hatte, und nicht dem, der idF die Affekthandlung setzte; vgl Assmann, Ma’at 109.
  • Hier zu nennen ist erneut Solons Verbot, über Tote schlecht zu reden – also die de mortuis nihil nisi bene-Regel; worauf eingegangen wurde.
  • Auch die drakontisch-solonische Entwicklung der Verschuldenshaftung könn­te ihren Ausgang von Ägyptens Ma’at-Konzept und der damit verbundenen Vor­stel­lung eines allgemeinen Totengerichts genommen zu haben.

Bedenkenswert erscheint mir – aus allem Angeführten – immer noch Fadingers Gesamturteil über Solons legistische ‚Orientierungs’-Leistung (durch sein Euno­mia-Kon­zept)[124], zumal dieses Konzept – wie erwähnt – nur der gedanklich-ideo­lo­gi­sche Überbau von Solons Gesetzgebung gewesen ist. – Es sei daher in Erinnerung ge­rufen, dass erst das Einbeziehen und gleichzeitige legistische Erweitern und Ver­tie­fen des bereits existenten griechischen Eunomiagedankens Solon die Möglichkeit geboten hatte, die disparaten und gedanklich alles andere als geschlossenen Teile sei­ner Gesetzgebung unter ein einheitliches gedankliches und – vor allem auch – prinzipielles ‚Dach’ zu stellen: nämlich die (im Leben wie nach dem Tod Geltung beanspruchende) Idee der Gerechtigkeit in ihrer nunmehr aktualisierten und ada­p­tier­ten griechischen Form der Eunomia.

Und es soll ebenso in Erinnerung gerufen werden, dass diese ‚Idee’ als gesell­schaft­liches Gesamtsteuerungskonzept schliesslich zur europäischen Rechtsidee geworden zu sein scheint, die, so lässt sich heute sagen, durch mehr als zweieinhalb Jahrtausende – zwar immer wieder verdunkelt und getrübt – eine letztlich unge­bro­che­ne Strahlkraft ausgeübt hat. Der historischen Entstehung dieses zentralen recht­li­chen Konzepts nachzugehen, erscheint daher nicht unnütz und besitzt – das ist ein inte­ressanter side-effect – Aktualität: Denn die Rechtsidee oder das Konzept der Ge­rechtigkeit ist auch heute wiederum bedroht und dies national und international; ich komme darauf noch zu sprechen. Und dies als Bruch einer mehr als 2600 Jahre alten (europäischen) Gesellschafts-Orientierung aufzuzeigen, scheint mir nichts Ne­ben­sächliches. Und wenn wir die möglichen ägyptischen Wurzeln dieses Konzepts hinzunehmen, können wir nochmals etwa eineinhalb Jahrtausende dazulegen. Das verdient unseren historischen Respekt und unsere Bewunderung. – Und noch etwas: Ma’at, (und idF Eunomia sowie Gerechtigkeit als Rechtsidee) war schon nach ägy­pti­schem Verständnis nicht etwas, das mit einem Schlag oder einem genialen Schöp­fungsakt ein für allemal hergestellt und gesichert werden konnte; dieses gesell­schaft­liche Prinzip erfuhr vielmehr schon in ägyptischer Zeit tiefgreifende Korre­ktu­ren und Ergänzungen, bedingt durch schwere politische Krisen und bedurfte da­rüber hinaus ständiger gesellschaftlicher Anstrengungen.

Zurück zu Fadingers Gesamturteil über Solon und Ägypten:

„Die universalhistorisch einmalige Leistung Solons bestand also – so Fadinger – darin, dass er das uralte Gerechtigkeitsideal des ägyptischen und mesopo­ta­mi­schen Gottkönigtums aus seinem festen Bezug zum Herrscher gelöst und für das Handeln aller Bürger ohne die institutionalisierte Zwischeninstanz eines Mittlers zur verbindlichen Richtschnur erhoben hat“.

Diese Aussage verdient unsere Beachtung. – Der von Fadinger zu recht hervor­ge­hobene solonische Teilhabegedanke aller Bürger am Staatsgeschehen kennt in der Tat keine unmittelbaren antiken Vorbilder, weder in Ägypten, noch im mesopo­ta­mi­schen Bereich. Er erscheint genuin griechischen Ursprungs. – Aber war das wirk­lich so? Ja und Nein! Denn sowohl Solons Freiheitsgedanke, wie seine Orientie­rung an der Gleichheitsidee und der daraus abgeleitete Teilhabegedanke sind – bis zu einem gewissen Grad – ägyptisch vorgeprägt; auch die Ma’at bedurfte der Par­ti­zi­pation aller: angefangen beim König und den Staatsorganen, aber auch aller Ein­zel­nen. Und teilnehmen konnte an diesem Werk nur, wer seinerseits nicht unter­drückt wurde, also frei war, was Ma’at grundsätzlich zu gewährleisten hatte[125]. – Insofern besteht auch diesbezüglich eine größere gedankliche Kontinuität der Ent­wicklung, als es zunächst scheinen will.

Versuchen wir ein vorläufiges Resümee zu ziehen: Fadingers Arbeit ist ver­dienst­voll und eröffnete neue historische Sichtweisen, die sich bei weiterer Klärung, Ausarbeitung und Vertiefung (unter Berücksichtigung neuester Forschungser­geb­nis­se – betreffend den Einfluß des Alten Orients auf die Griechen), zu einem klä­ren­den Verständnis dieser interkulturellen Austauschbeziehung zusammenfügen könn­ten. Um zu einer solchen Sichtweise zu gelangen, muß aber noch eine Reihe offener Forschungsfragen geklärt werden, von denen einige hier genannt wurden. – Durch die hier gestellten Fragen, die vorgenommenen Ergänzungen und die erho­be­nen Einwände soll insbesondere eine modifizierende Übernahme der Eunomia-Dok­trin aus der ägyptischen Ma’at-Lehre nicht ausgeschaltet werden. Gelänge ein solcher Nachweis, wäre das vielmehr zu begrüßen; denn der Parallelen und Ähn­lich­keiten bestehen in der Tat viele. Aber bis das erreicht ist, erscheint die nötige wissenschaftliche Vorsicht geboten. – Fadinger wäre daher zu raten, sich bspw mit den Ergebnissen von W. Schmitz[126], der anglo-amerikanischen Literatur[127] und vor allem – genauer – mit Assmanns bahnbrechender Monographie auseinander­zu­se­tzen und dabei insbesondere auch den älteren griechischen Gerechtigkeits­vor­stel­lun­gen und der Verwendung des Eunomia-Begriffs bei Homer, Hesiod ua nachzu­gehen[128].

Könnte es nicht sein, dass Solon – gestärkt und vielleicht auch beeindruckt durch ägyptische Anregungen – den zwar bereits bekannten, aber inhaltlich noch we­nig gehaltvollen und ungenauen homerischen und hesiodschen Begriff der ‚Eu­no­mia’ angereichert und zu einem gesamtgesellschaftlich-normativen Funktions- und Steuerungskonzept ausgebaut hat, das schliesslich in dieser Form zur Grund­la­ge der bis heute wichtigen europäischen ‚Rechtsidee’ und – des daraus erwachsen­den ‚Rechtsstaatsgedankens’ wurde?[129] – Für die Polisidee war das förderlich.

Lassen Sie mich zuletzt noch einige Sätze zur Aktualität meines Themas sagen: Die Frage der Gerechtigkeit muss in Gesellschaften immer wieder neu gestellt und beantwortet werden – und sie ist daher auch unserer Zeit aufgegeben, ja sie er­scheint heute dringend einer neuen Antwort zu bedürfen, zumal ua die (im Rahmen des akzelerierten sozialen Wandels) fortschreitende Individualisierung so wichtig sie in bestimmter Hinsicht war und ist – den gesellschaftlichen Zusammenhalt, was wir auch Solidarität nennen, zu zerstören droht. – Die Konzepte der ägyptischen Ma’at und der solonisch-griechischen Eunomia waren nichts anderes, als solche gesellschaftlichen Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Einzelnem und Ge­mein­schaft[130]; und insofern enthalten sie Anregungen auch noch für uns Heutige. Schon deshalb, weil uns diese Konzepte daran erinnern, dass die genannte ge­sell­schaftliche Beziehung sich nicht von selbst einstellt, sondern immer wieder neu ge­fun­den werden muß. Und wir befinden uns gegenwärtig auf einem gefährlichen Weg, der die Solidarität aushöhlt und damit die soziale Kohärenz unserer Gesell­schaften zu zerstören droht. Der überbordende Neoliberalismus lässt für die als wichtig erkannte Beziehung wenig Raum. – Betrachten Sie daher meine Ausfüh­run­gen auch als eine Anregung zu dieser – damals wie heute unverzichtbaren, wenn­gleich schwierigen – gesellschaftlichen Aufgabe.

 

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* Dieser Text lag meinem Vortrag auf der Tagung „Lebend(ig)e Rechtsgeschichte. – Rechts­ge­schich­­te und Interkulturalität – Zum Verhältnis des östlichen Mittelmeerraums und ‚Europa’ im Alter­tum“, gehalten am 14. Oktober 2005, zugrunde.

[1]. Solon the Athenian 281 (1919).

[2]. The Work and Life of Solon 135 ff (1926; Reprint: 1976). Freeman meint zurückhaltend: „But the probability is that it [sc der nomos árgias] was not borrowed from Egypt”. Das erscheint mir grundsätz­lich zutreffend, sagt aber nichts aus über eine allfällige Übernahme des – oder von Teilen des – Ma’at-Konzepts durch Solon.

[3]. Die Konsequenzen wurden bisher offenbar noch nicht hinreichend bedacht und träfen das mitunter auftrumpfende europäische Selbstbewusstsein in den Augen mancher empfindlich. – Aber von ei­ner universalgeschichtlichen Perspektive oder auch nur einer Antiken Rechtsgeschichte ist die deutsch­sprachige Rechtsgeschichte – trotz eines Ludwig und Heinrich Mitteis, eines Leopold Wenger und ande­rer Vorkämpfer – wohl noch weit entfernt. Und ein unentwickelter Selbstwert bedarf der Kom­­pen­sa­tion. – Im Buch „Graeca non leguntur“? gehe ich ausführlich auf das griechische Gerechtigkeitsdenken, also das, was wir heute Rechtsidee nennen, ein.

[4]. Ich erinnere an so instruktive und für die Frage der historischen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Rezeptionen und Kulturtransfers so instruktiven Arbeiten wie: „Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca 590 v. Chr.“ (1996) oder „Kontakte zwischen Griechen und Ägypten und ihre Aus­wirkungen auf die archaische Welt“ (2004).

[5]. Ich verweise diesbezüglich auf einen Vortrag Leopold Wengers (Nationales, griechisches und rö­misches Recht in Aegypten) aus dem Jahre 1935, wo diese bis heute aktuellen Fragen bereits themati­siert wurden. Wenger äußert sich hier kritisch zur Haltung vieler Vertreter des römischen Rechts gege­nü­ber dem griechischen und anderen Rechten und ist bestrebt, „das Problem der ‚Antiken Rechtsge­schi­chte’ gegen Missverständnisse [zu] klären“. Dazu führt er aaO 164 aus: „Was wir wollen, ist nicht eine isolierte Betrachtung babylonischen, ägyptischen und sonst orientalischen, ferner griechischen Rechtsgutes … sondern es handelt sich uns um eine zusammenfassende Betrachtung der Rechtswelt des ganzen Altertums – nicht bloß der griechisch-römischen ‚Antike’ im engeren Sinne – freilich vom Blick­punkt des griechisch-hellenistischen und letzten Endes des römischen Rechtshistorikers aus“.

[6]. Unterscheiden lassen sich dabei Beweis(pflicht)abstufungen, die von ‚normaler’ Beweislast, über Beweiserleichterungen bei Kausalitätsverdacht, den Anscheins- oder Prima-Facie-Beweis, bis hin zur Beweislastumkehr reichen. Dabei wäre es sinnvoll auch im Bereich der (Rechts)Geschichte zwischen bloßer Möglichkeit und bereits beweisbegründender Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden; vgl mei­ne Ausführungen, in: Zivilrecht II 597 – Foliendarstellung (20042).

[7]. Dabei scheint bisher die nahe liegende Möglichkeit noch gar nicht oder doch zu wenig in Betracht gezogen worden zu sein, dass bspw mit dem ägyptischen Tempelbau auch organisatorische und rechtliche Strukturen der Tempelverwaltungen rezipiert worden sein könnten. Dass das aber in der Tat historisch eine Rolle gespielt haben könnte, zeigte uns der wichtige Vortrag auf der heurigen Tagung „Le­bend(ig)e Rechtsgeschichte“ (2005) von Sch. Allam: „Überlegungen zur persona ficta im altägypti­schen Stiftungswesen“, dessen Beweismaterial die seit etwa 70 Jahren umstrittene Frage, ob die ägypti­sche Stiftung bereits eine juristische Person war oder nicht, wohl endgültig im bejahenden Sinne ent­schie­den hat; vgl zu dieser Auseinandersetzung schon L. Wenger, Nationales, griechisches und römi­sches Recht in Aegypten (1936).

[8]. Vgl Pichot, Die Geburt der Wissenschaft 219: Danach genossen ägyptische Ärzte im Altertum großes Ansehen; „Einer Tradition zufolge soll Hippokrates einen Teil seiner medizinischen Ausbildung … in Memphis absolviert haben“. – Herodot II 84 weist auf die hohe Spezialisierung in der ägyptischen Medizin hin.

[9]. Vgl insbesondere Burkert, Die Griechen und der Orient (2003).

[10]. Dazu Burkert, Die Griechen und der Orient 79 ff: Orpheus und Ägypten; hier wird auch auf Verbindungen zwischen Dionysos und dem Osiriskult eingegangen. Die historische und religionsge­schicht­liche Einschätzung der Orphik ist aber umstritten; vgl die Hinweise bei Burkert, aaO 83.

[11]. Die Griechen uund der Orient 80.

[12]. Stele des Königs Neferhotep; J. Assmann, Ma’at 283.

[13]. Das Alte Ägypten 13 f. – Eine eingehende Darstellung der Entwicklung der Ma’at bringt Westendorf, Ursprung und Wesen der Maat (1966).

[14]. Justitia ist bis heute weiblich! – Zu Themis (als Gattin des Zeus) und Dike deren Tochter: Harrison, Themis 480 ff.

[15]. Zur Ma’at als Göttin: Assmann, Ma’at 161 ff. – Das solonische Begriffspaar hieß, wenngleich nicht mehr personifiziert, Eunomia und Dysnomia. – Die ägyptische (Rollen)Spaltung in Ma’at als Göt­tin des Kosmos und Ma’at als menschlich-gesellschaftlich-verhaltensleitendes Prinzip zeigt sich auch noch in der griechischen Mythologie, wo zunächst Themis/Θέμις ebenfalls als persönliche Göttin (und Gattin des Zeus als höchstem Rechtswahrer) auftrat und daneben das von ihr stammende Verhaltensprin­zip existierte: themis estin/θέμις ’έστιν/es ist Recht. Themis ist Tochter des Uranos und der Gaia und sie gebar aus ihrer Verbindung mit Zeus die Moiren oder Horen (Eunomia, Dike und Eirene). Nach Aischylos (Prometheus 18) ist sie auch Mutter des Prometheus. Wahrscheinlich diente ihr bereits die Waage als Gerechtigkeitssymbol; zum ägyptischen Totengericht, bei dem ebenfalls die Waage schon eine bedeutende Rolle spielte Assmann, Ma’at 133, 164. Umfassend zu Themis das gleichnamige Buch von Harrison (1911/1963).

[16]. Ich gehe darauf in Kapitel II 7, 8, 15 und 16 meines buchs („Graeca non leguntur“?) noch näher ein. – Zur Bedeutung der solonischen Reformen für die Entwicklung des politisch-demokratischen Teil­habegedankens ua M. Stahl, Solon F 3D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens (1992).

[17]. Dazu Lesky, Grundzüge griechischen Rechtsdenkens 5 ff (1985): I. θέμις und δίκη sowie eben­dort 5 ff (1986): II. Νόμος mwH. Lesky geht auf die Entwicklung, Unterscheidung und Überschneidung der Begriffe qέμις, δίκη, νόμος und θεσμός ein und unterscheidet insbesondere auch zwischen dem zeitlich unterschiedlichen Verständnis von νόμος. In Teil I, S. 89 findet sich eine Kritik an Hirzels Themisdeutung.

[18]. Ich gehe darauf im ‚Buch’ in Kapitel II 7 ein. – Heinimann behandelt aaO 64 auch die frühe Ver­wendung des Gegensatzpaares Eunomia und Dysnomia bei Hesiod ein.

[19]. Zur Entstehung des Politischen bei den Griechen 225.

[20]. Abgedruckt etwa bei Miltner, Solon. Fragmente (1955) und Preime, Solon: Dichtungen. Sämt­li­che Fragmente (1940); eine englische Übetrtragung von Solons Dichtung bietet Freeman, The Work and Life of Solon. With a Translation of his Poems (1926/1976).

[21]. Grundlegend Harrison, Themis 480 ff.

[22]. The Justice of Zeus 44.

[23]. Lloyd-Jones, The Justice of Zeus 36 Fn 43 uH auf V. Ehrenberg und M. Ostwald 63 f: „... the notion of eunomia connotes both the possession od good laws and the disposition to obey them”.

[24]. Lipsius I 11 weist darauf hin, dass Dike/Δίκη zuerst bei Hesiod personifiziert ist. Zu Bedeutung und Verwendung von Dike in der Ilias: Lloyd-Jones, The Justice of Zeus 166 Fn 23 uH auf E. Wolf I 85 f.

[25]. Wichtige Ausführungen zum frühen griechischen Verständnis von Themis – das idF offenbar in den Begriff der ‚Eunomia’ einfliesst – finden sich bei K. Latte, Rechtsgedanke 77 ff: Danach be­deu­tet der Begriff in seinen historisch noch fassbaren Wurzeln, das der Gemeinschaft Dienliche, das Rich­ti­ge, das, was Frieden bringt, die Gleichheit der Rechtsgenossen wahrt (Gleichheit vor dem Recht war dem­nach offenbar schon vor-solonisch als Rechts-wert von Bedeutung) und dadurch Gerechtigkeit schafft. Insofern ist Themis Gegenspielerin von Hybris. Themis umfasste demnach die gesamte Breite des positiven Sozialverhaltens, nämlich Sitte und Brauch ebenso wie das Rechtsdenken und Rechts­han­deln unter den Griechen.

[26]. The Justice of Zeus 36.

[27]. Hesiod steht wie Homer historisch nicht isoliert da, sondern in einer historischen Austauschbeziehung zu anderen Kulturvölkern, insbesondere Mesopotamien und Ägypten; dazu Burkert, Die Griechen und der Orient 28 ff und 55 ff sowie Rollinger, Altorientalische Motivik in der frühgriechischen Literatur am Beispiel der homerischen Epen 156 ff. – Wer denkt bei Hesiods Klagen über die Ungerechtigkeit der Mächtigen/Basilées und seines Bruders nicht an die freilich viel älteren ägyptischen „Des Bauern Reden wider die Korruption“ (~ 21. Jh. v. C.); abdedruckt in: Schüssler (Hg), Pharao Cheops und die Magier 29 ff. – Allgemein zur Begegnung der Griechen mit den Völkern des Alten Orients: Weiler, Soziogenese und soziale Mobilität im archaischen Griechenland (1996) und insbesondere P. W. Haider, Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr. 59 ff (1996) und derselbe, Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaisch-griechische Welt 447 ff (2004).

[28]. Vgl Werke und Tage, Verse 259 ff.

[29]. Ich erinnere an die schöne Stelle der ‚gegabelten Weltordnung’ in den Erga (Verse 275 ff). Sie lau­tet: „Perses, o mögest Du dies im Herzen bewahren,/Höre immer aufs Recht und niemals übe Gewalt­tat [Hybris],/Denn diesen Nomos erteilte Kronion den Menschen./Bestien zwar und Fische und flügelspannende Vögel/Mögen einander verschlingen, denn die ermangeln des Rechts,/Aber den Menschen verlieh er das Recht,/Das höchste der Güter“.

[30]. Die Parallelen sind zum Teil verblüffend: So entsprang auch Ma’at (wie später Athene) dem Haupt ihres Erzeugers Re; Nachweis bei Assmann, Ma’at 161 (ohne Bezugnahme auf Athene).

[31]. Demotisierung: von Demos, gr. Volk, weil nun jeder mit einer unsterblichen Seele ausgestattet erschien.

[32]. Zum Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit nach ägyptischen Vorstellungen: Assmann, Ma’at 124. Danach setzt die Gerechtigkeit die Wahrheit in Lebenspraxis um.

[33]. Das galt auch für Themis.

[34]. Vgl Assmann, Ma’at 121.

[35]. Vgl etwa Assmann, Ma’at 109 f: In der biographischen Inschrift des Mentuhotep wird auf ein Sprich­wort Bezug genommen – „Das Denkmal eines Mannes ist seine Tugend,/der mit schlechtem Charakter aber wird vergessen“. Ob es in diesem Bereich zu Transfers gekommen ist, wissen wir nicht, auszuschliessen ist das aber nicht. – Berichtenswert erscheint mir eine andere – uns heute fast fremde – Übereinstimmung von ägyptischem und griechischem Rechtsdenken; Assmann, Ma’at 109 berichtet davon, dass die ägyptische „Affektenlehre, die Affekte nicht in der empfindenden, sondern in der auslö­sen­den Person lokalisiert“; danach werden Affekte wie Liebe und Haß ‚eingeflösst’. Dieselbe Vorstellung findet sich (noch) – wie ich feststellen konnte – in der rechtlichen Schuldlehre der Griechen bei Antiphon, Platon und Aristoteles; dazu nunmehr in meinem Beitrag: Die Entstehung der Rechtskategorie ‚Zufall’ etwa 44, 56 f, 86 ff.

[36]. Zu Alter und Entwicklung: Assmann, Ma’at 126 ff. – Mit dem Totengericht kommt das Bild-Symbol der Waage auf, denn das menschliche Herz wird gegen die Ma’at aufgewogen; vgl Assmann, Ma’at 124 sowie 132 ff und 164. – Assmann (Ma’at 130 f) geht auch auf den Prozess post mortem ein, den wir durch die Schilderung Diodors (I 92.4 f) kennen.

[37]. Assmann, Ma’at 125 Fn 8 weist darauf hin, dass sich die Unsterblichkeitsidee der Seele (verbunden mit einem paradiesischem Jenseits) und die Annahme eines Totengerichts gegenseitig bedingen; und er verweist diesbezüglich auf Griffiths (The Idea of Posthumous Judgement 193, [1983]): „It is significant that when the Greeks took over the idea of a happy Elysium, they also accepted the idea of judgment after death“.

[38]. Näheres bei Assmann, Ma’at 122 ff.

[39]. Eine solche Annahme lag mir bisher fern. Nunmehr aber, nach der Lektüre von Assmanns, Ma’at, tat sich manch’ neuer Zusammenhang auf, ua dieser.

[40]. Vgl Assmann, Ma’at 80 ff. – Ähnliche Anregungen könnte Solon den ägyptischen Texten im Hinblick auf Milde/Billigkeit (Epieikeia), Gewalt und Hybris entnommen haben; vgl den bei Assmann aaO abgedruckten Text des Gesprächs des Lebensmüden mit seinem Ba.

[41]. Wie tief die ägyptischen Vorstellungen von Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit mit religiös-mythologischem Denken verbunden sind zeigt auch Westendorf, Ursprung und Wesen der Maat (1966).

[42]. Solon weist hier eindringlich auf die drohenden Konsequenzen für seine Heimat hin.

[43]. Hier findet sich erstmals die später bei den Griechen so starke Vorstellung einer kollektiven Dimension von (persönlicher) Schuld mit irdischer Auswirkung. Wohlverhalten dient danach nicht nur der eigenen Rechtfertigung (im Jenseits, neben dem Erfolg im Erdenleben), sondern auch dem Wohlergehen der Kinder und Kindeskinder. UH auf E. Otto weist Assmann (Ma’at 158 f) darauf hin, dass dies mit der wachsenden Skepsis zu erklären sei, „mit der in den [sc ägyptischen] Inschriften von einem Jenseitsleben die Rede ist“. Diese Skepsis gegenüber einem Weiterleben im Jenseits übernahmen die Griechen vielleicht ebenso wie den Glauben an eine Kollektivschuld. Dieses religiösen Ballasts begann man sich erst unter dem Einfluß der Sophistik am Ende des 5. Jhs. v. C. zu entledigen.

[44]. Vgl Assmann, Ma’at zB 55: Damit wird der gesellschaftliche Wert der Solidarität angesprochen.

[45]. Dazu später bei Anm 119.

[46]. Gehrke/Möller (Hg), Vergangenheit und Lebenswelt (1996).

[47]. Fadingers Einschätzung der Leistungen Solons stimmen mit meinen Ergebnissen grundsätzlich überein. – Die Schlussworte im Zitat Fadingers stammen aus Ch. Meiers Werk, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte (1993), das von Fadinger zitiert wird. – Eine Auseinandersetzung mit dem mittlerweile nicht unproblematischen Begriff der ‚Achsenzeit’ – er geht auf K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1948) zurück – findet sich bei Assmann, Ma’at 24 ff.

[48]. Untersuchungen zur altorientalischen und althellenischen Gesetzgebung (1933).

[49]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 181.

[50]. Nachweise zu Diodor, Aristoteles, Plutarch und Solon bei Fadinger, aaO 181 Fn 8. Vgl aber etwa auch schon Linforth, Solon the Athenian 281.

[51]. Vgl dagegen die Reiseangaben bei Linforth, Solon the Athenian 297 ff: Danach erwähnen folgende Autoren, dass Solon Ägypten besuchte – Herodot (I 29: und zwar, dass Solon nach seiner Gesetzgebung zu Amasis nach Ägypten ging; das ist aber historisch fragwürdig, denn Amasis herrschte von 570/569-526/5 v. C.); Platon, Timaios 21b ff (nach seiner Gesetzgebung?); Aristoteles, Athenaion Politeia 11 (nachher); Plutarch, Solon 26 (nachher); Plutarch, Über Isis und Osiris X 354e (?); Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen I 50 (nachher); daneben nennt Linforth noch: Schol. Plat. Loc. cit.

[52]. Zitiert nach Feix, Herodot I (2000).

[53]. Fadinger weist aaO 181 Fn 9 mwH darauf hin, dass das ägyptische Gesetz offenbar schon älter war, zumal die Reise Solons aus Gründen der Chronologie (Archontat 594/93 v. C.) in die Regierungs­zeit von Pharao Necho II (610-595 v. C.) oder Psammetichos II (595-589 v. C.) gefallen sein musste.

[54]. Ich verweise auf die Ausführungen P. W. Haiders im Rahmen dieser Veranstaltung.

[55]. Vgl bspw auch die Ausführungen bei Assmann, Ma’at 82 f (Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba: Dieser Text könnte als Vorbild für Solons Klagen über den Zustand seiner Vaterstadt Athen in seinem Eunomia-Gedicht gedient haben) oder 85 ff (Lehre für Merikare und Lehre des Ptahhotep).

[56]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 181 f mwH in Fn 10 und 11.

[57]. Fadinger geht idF aaO 184 ff auf das ägyptische Verbot der Personalexekution und die dahinter stehende Gerechtigkeitsidee der ägyptischen Ma’at ein und hier finden sich (aaO 185) Hinweise, dass es ähnliche Vorstellungen auch in Mesopotamien gegeben habe: zB bei Hammurapi. – Damit scheint aber noch wenig bewiesen, zumal – wie erwähnt – keineswegs feststeht, dass Solon vor seiner Gesetzgebungstätigkeit in Ägypten oder mesopotamischen Bereichen war oder einschlägige Kenntnisse aus diesen Ländern erlangt hatte.

[58]. Miltner, Solon. Fragmente 11 ff weist auf die Hintergründe von Solons Berufswahl (Kaufmann) hin und erinnert dabei an Plutarchs Hinweis, wonach Solon „diese Reisen mehr der Erfahrung wil­len unternommen sowie der Forschung wegen als um des Gewinnes willen“. – Wie auch immer: So­lon scheint auch schon vor seiner politischen Tätigkeiten weite Reisen unternommen und einen äußerst wachen und aufnahmefähigen Geist besessen zu haben.

[59]. Fadinger hat sich dazu nicht geäußert und auch nicht – wie P. W. Haider in dieser Veranstaltung – die historischen Rahmenbedingungen im Hinblick auf ihre ‚Unterstützung’ untersucht.

[60]. Damit stehen wir – so scheint es – vor dem griechischen Begriffspaar von Kosmos und Chaos. Ich verfolge diesen Gedanken hier nicht weiter, wenngleich er mir verfolgenswert erscheint.

[61]. Fadinger, aaO 185 mwH: Das trifft zwar zu, verkürzt aber den deutlich umfassenderen Gehalt dieses Gerechtigkeitskonzepts – wie es von Assmann sorgfältig aufbereitet wurde.

[62]. Die einschlägigen Passagen der Eunomia-Elegie thematisieren dies.

[63]. Griechische Tyrannis und Alter Orient (1993).

[64]. Ma’at (1990). – Fadingers (Solons Eunomia-Lehre 186 f) Bezugnahmen auf Assmann schöpfen dessen Ausführungen nicht aus.

[65]. Dazu Schlögl, Das Alte Ägypten 122 ff (Spätzeit) und insbesondere 128 ff (Renaissance in der 26. Dynastie).

[66]. Vgl auch die idF angeführten weiteren Beispiele.

[67]. Hier verweist Assmann, Ma’at 94 in Fn 8 bezüglich des Testaments im Alten Ägypten ua auf Sch. Allam, in: Oriens Antiquus 16, 1977, 89 ff.

[68]. Nach Assmann, Ma’at 94 f kommt dieser Gedankengang auch in anderen ägyptischen Texten zum Ausdruck, nämlich in der Loyalistischen Lehre/Enseignement loyalist oder in den Worten des Henu.

[69]. Mag vielleicht auch schon eine ältere (gewohnheitrechtliche?) Praxis existiert haben, deren Umfang aber offensichtlich zweifelhaft und daher umstritten war.

[70]. Dazu Assmann, Ma’at 112 ff. – Assmann weist hier darauf hin, dass die Ma’at-Lehre im Rahmen der Zwischen- oder Übergangszeit vom Alten zum Mittleren Reich, einen starken Wandel erfahren und eine wichtige neue innermenschliche Dimension erfahren habe. Ma’at beurteilt nunmehr auch die Rechtschaffenheit des menschlichen Handelns, und dies nicht nur äußerlich, sondern auch von der inneren Einstellung her, ägyptisch: vom Herzen (Assmann, aaO 114 spricht von der „Ausdifferenzierung einer personalen Innenwelt“; Gewissen?) her. Es kommt zur Entwicklung von Tugend(vorstellungen) und parallel dazu zur „Ausbildung einer neuen Seelenvorstellung: des ‚Ba’“; dazu eingehend Assmann, Ma’at 114 ff (Hervorhebungen von mir). Diese neuen Vorstellungen einer unsterblichen Seele verbanden sich, wie Assmann sich ausdrückt, damit, dass die Seelenvorstellungen „demotisiert“ (griechisch: de­mos = Volk), also auf eine breite Anwendungsgrundlage gestellt wurden. Besaß bis zum Ende des Alten Reichs nur der König eine Seele (einen ‚Ba’), mit der er nach seinem Tode in die Götterwelt ein­ge­hen konnte, dehnten die neuen Seelenvorstellungen dies auf alle Menschen aus. – In dieser Ent­wick­lung liegt ein enormer gesellschaftlicher Individualisierungsschub, der demnach von religiösen Vorstel­lun­gen seinen Ausgang nimmt und bei Solon bereits eine namhafte säkularisierte Rechtsdimension erlangt hatte.

[71]. Auf die durch Solon signifikant eingeleitete Entwicklung und Förderung des Individuums gehe ich im ‚Buch’ („Graeca non leguntur“?) näher ein.

[72]. Assmann, Ma’at 80 f verweist hier auf das 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs und zitiert daraus. – Vgl schon oben bei Anm 38.

[73]. Ma’at 80.

[74]. Assmann, Ma’at 122 ff. Vgl dazu die Gesamtausgabe von E. Hornung, Das Totenbuch der Ägypter (1997).

[75]. Einen Beleg dafür bietet die Haltung des Pharao/Königs gegenüber dem berühmten ‚Oasenmann’, dessen ‚Klagen’ in derart schönen Wendungen abgefasst waren, dass der König die Anweisung gab, „den beredten Oasenmann möglichst lange hinzuhalten, um ihm auf diese Weise noch weitere Reden von so wunderbarer Schönheit zu entlocken“; dazu Assmann, Ma’at 58 ff.

[76]. Ma’at 85.

[77]. Dazu Assmann, Ma’at 56 f mwH und Nachweisen.

[78]. Assmann, Ma’at 85.

[79]. Ma’at 82 ff. – Zum Begriff des Ba vgl die Ausführungen in Anm 70.

[80]. Dazu ausführlich im ‚Buch’. – Dieser Gedanke gewann in Griechenland und dann in Rom große Bedeutung.

[81]. Ma’at 103.

[82]. Hervorhebungen von mir.

[83]. Assmann, Ma’at 103 f bringt ein eindrucksvolles Textbeispiel aus der Biographie des Rechmire (18. Dynastie: 1540-1292 v. C.), das hier aus Raumgründen nicht abgedruckt wird, aber nachgelesen werden sollte. – Hervorhebungen von mir.

[84]. Vgl nur die kurzen Hinweise bei Schlögl, Das Alte Ägypten 36, 53 und 80 sowie insbesondere Haider, Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr. (1996) und derselbe, Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaisch-griechische Welt (2004).

[85]. Einleitung, in: dieselben (Hg), Griechische Archaik 12 (2004).

[86]. AaO 13.

[87]. Ein Grund für das bestehende Desinteresse an diesem Thema ist aber wohl auch der, dass recht­liche Fragestellungen historisch immer noch als nicht sonderlich attraktiv gelten. Dazu kommt, dass Vert­reter der Rechtsgeschichte das Befassen mit anderen antiken Rechten als dem römischen – bspw mit griechischem – Recht als inattraktiv hingestellt haben. – Daher versuchen wir mit unseren Veran­stal­tungen für die historische Beachtung auch rechtlicher Fragen jenseits des römischen Rechts zu wer­ben, die ja idR nur im interdisziplinären ‚Verbund’ gelöst werden können.

[88]. Umgekehrt hat aber offenbar auch Fadinger weder neue Beweise nachgereicht, noch auf spätere Publikationen – wie die von Schmitz – reagiert.

[89]. Die Homerdatierung – und damit die von Hesiod – ist nach wie umstritten, was gerade in dieser Frage eine Rolle spielt.

[90]. Pindars XIII. Olympische Ode preist Korinth, das einen Sieger im Stadionlauf und im Fünfkampf gestellt hatte. Auch in der IX. Olympischen Ode (16) Pindars findet sich ein Hinweis auf „Eu­nomia“.

[91]. Allzuviel lässt sich daraus freilich nicht ableiten, denn Homer gebraucht danach das Wort noch nicht im späteren umfassenderen solonischen Sinn von „Wohlgesetzlichkeit“ (von Thesmos und Nomos) und „guter staatlicher Ordnung“. Und der bei Solon – analog dem Ma’at-Konzept – betonte Schutz der Schwachen und Armen, ist bei Homer bestenfalls ansatzweise vorhanden.

[92]. Zutreffend lässt sich zwar sagen, dass sich Solons Konzept nicht gegen Homer gerichtet hatte, aber er ging deutlich weiter und sein Eunomia-Verständnis integrierte begrifflich die bislang auf verschiedene Götter verteilten normativen Aussagen. – Fadinger vernachlässigte diese mythologisch-reli­giö­sen Bezüge von Solons Eunomia-Verständnis. Ratsam wäre auch ein Berücksichtigen so bedeuten­der Arbeiten wie der von Lloyd-Jones, The Justice of Zeus (1971) oder von Harrisons, Themis (1911/ 1963) gewesen. Daraus geht hervor, dass die Griechen bereits mit den homerischen Epen (und zwar mit steigender Tendenz von der Ilias zur Odyssee) über fundierte Vorstellungen von Recht und Unrecht sowie von Gerechtigkeit verfügten. – Nicht alles stammt daher aus Ägypten.

[93]. Dazu Burkert, Die Griechen und der Orient 28 ff mw sowie Rollinger, Neuassyrische Staatsver­träge und Homer: Ein transkultureller Vergleich (2005).

[94]. Vgl P. W. Haider in seinen Publikationen.

[95]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 202.

[96]. Das scheint nicht im übertragenen Sinn gemeint zu sein, ist dann aber unzutreffend.

[97]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 203 mwH. – Fadingers Ausführungen bleiben hier an der Oberfläche: So weist er – wohl im Anschluss an Assmann – zutreffend auf die Bedeutung der sogenannten drei Zwischenzeiten hin (Erste Zwischenzeit: ~ 2134-1991 v. C.; Zweite Zwischenzeit: Über­gang vom Mittleren zum Neuen Reich: ~ 1750-1550 v. C.; Dritte Zwischenzeit: 1080 bis einschließlich der Regierungszeit des Bokchoris: ~ 718-712 v. C., ohne zu erwähnen, dass der Inhalt der Ma’at star­ken Veränderungen unterworfen war.

[98]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft 190 ff (2004). – Ich gehe darauf im ‚Buch’ näher ein.

[99]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft 190 ff (2004).

[100]. Als weitere Quellen wird auf Diogenes Laertios und Plutarch, Solon 17, 1 f verwiesen.

[101]. Ich gehe im ‚Buch’ (in Kapitel II.) näher auf die Popularklage ein, insbesondere auch den Ver­such durch K. Latte, diese Klagsform rein ‚innergriechisch’-autochthon zu erklären. Ich begnüge mich hier aus Raumgründen mit dem Fundstellenhinweis, wo Latte diese Erklärung vorgenommen hat; es sind Lattes „Beiträge zum griechischen Strafrecht 263 ff.

[102]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft 197 (2004).

[103]. ME besteht zwischen beiden Konzepten oder Lehren eine Grundlagenverwandtschaft. Die grundsätzliche Übereinstimmung ist immer wieder verblüffend. Fadinger hat es versäumt, dies umfassender und im Kontext der griechischen Entwicklung aufzuzeigen. – Alle erwähnten Parallelen stammen von mir, zumal Assmann auf Solon und Griechenland nicht eingeht. Auch ich kann in diesem beschränkten Rahmen keine vollständige konzeptuelle Gegenüberstellung bringen.

[104]. Vgl Assmann, Ma’at 56 f.

[105]. In Sinne der Funktion einer Generalklausel forderte der Gedanke der Eunomia dazu auf, auch künftig in ihrem Sinne tätig zu werden.

[106]. Ma’at 137.

[107]. Die Beispiele stammen aus dem 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs und lesen sich wie der Dekalog; vgl Assmann, Ma’at 137 ff.

[108]. Die politische Parallele der Situation Solons zur ägyptischen Ersten Zwischenzeit bestand wohl in folgendem: endgültiger Verlust der Adelsmacht durch die von ihm für nötig erachtete neue – weil auf Solidarität und Gegenseitigkeit setzende – politische Poliskultur, die nach einer Wertever­schmelzung auf der Basis des Rechts und einer rechtlichen Anerkennung des einzelnen Bürgers verlangte, weil nur so ein politisches Teilhabekonzept aller geschaffen werden konnte; + Hoplitenheer + akzelerierter sozialer (insbesondere auch wirtschaftlicher) Wandel. – Auch in Ägypten war es um die Einordnung aller (!) in eine solidarische Gemeinschaft gegangen; Assmann (Ma’at 69) bezeichnet das als iustitia connectiva und spricht andernorts (aaO 90) anschaulich von der „Erkenntnis der eigenen Nichtautarkie“ und der „Angewiesenheit auf den anderen“. Solons Kenntnis des bäuerlichen Lebens und der bäuerlichen Werte (dazu W. Schmitz) hatte ihn offenbar zu diesen Einsichten (, dass ich den anderen brauche,) geführt, die – wie Assmann zu Recht betont – deutlich realistischer sind, als die „radikal altruistische Wendung, die die jüdisch-christliche Tradition dieser Einsicht“ gab.

[109]. Eine Schwäche der Arbeit Fadingers liegt darin, dass er den enormen Wandel des Ma’at-Konzepts übergeht. Aber Ma’at stellte im Laufe der ägyptischen Geschichte etwas sehr Verschiedenes dar; so wie die homerische Eunomia kaum etwas mit der solonischen gemein hat.

[110]. Darin liegt wohl auch der Grund für die eigenartige Ambivalenz der alten Griechen gegenüber Solon: Sie lehnten dieses (Lebensführungs)Konzept ab, sodass es zunächst politisch scheiterte, hiel­ten idF aber Solons Ideen hoch, obwohl sie nur Bruchteile seiner Gedanken akzeptierten.

[111]. Assmann, Ma’at 13 weist hier auf den französischen Soziologen und Indologen L. Dumont hin, der diese beiden Optonen als „homo hierarchicus“ und „homo aequalis“ einander gegenüber­ge­stellt habe. – Assmann stellte fest, dass der von ihm für die Ma’at verwendete Begriff der ‚vertikalen So­li­darität’ dem des homo hierarchicus entspreche, wenngleich sein Begriff neben dem Gedanken der Unte­rordnung auch die Idee der Gemeinschaft zum Ausdruck bringe, ohne welche Unterordnung in Unterdrückung umschlage, was auch für das andere Prinzip gelte.

[112]. Ich gehe darauf in meinem Buch „Graeca non leguntur“? näher ein.

[113]. Es ist das Verdienst von W. Schmitz (Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft), uns diesen Vorgang auf neuestem Forschungsstand vermittelt zu haben. – Ich gehe auf den Prozess der Polisbildung im ‚Buch’ näher ein.

[114]. Ma’at 217.

[115]. Ma’at 54.

[116]. Die Ma’at war ursprünglich „der Wille des Königs“ und wurde erst durch die schwere Krise der Ersten Zwischenzeit (Untergang des Alten Reichs am Ende des 3. Jts. v. C.) zu einem allgemeinen Verhaltenskonzept, das nun alle, auch den König, einband. (Das Verständnis der Ma’at unterlag danach einer starken, krisenbedingten Veränderung, was übrigens auch für das Gesetzesverständnis der Griechen galt: Dieses entwickelte sich ausgehend vom nomologischen Wissen iSv Max Weber, über den Alten Nomos, den Thesmos, hin zum Neuen Nomos.) – Mit dem zeitweiligen Verfall, ja Zerfall der Zen­tralinstanz in der Krise konnte sich auch der Einzelne, das Individuum entwickeln, das im Alten Reich noch bloß als „Baustein im integrativen Gefüge des Staates“ verstanden worden war. Die ursprün­gliche Einheit von „Herrscher und Gott, Kultur und Natur, Gesellschaft und Kosmos, Gerechtigkeit und Weltordnung“ zerfiel mit dem Alten Reich. – Es ist mE kein Zufall, dass auch mit Solon (und zwar ebenfalls aus der existenziellen Krise seiner Vaterstadt heraus) der Einzelne als Rechtsperson entsteht. – Stark zeitverschoben zu Ägypten wird in Athen ebenfalls der erwähnte Zerfall der bisherigen Weltordnung thematisiert (beginnend mit Solons Dichtung!): Das erfolgt dann aber in Griechenland erst in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. C., ausgelöst durch die Sophistik, im Rahmen der Nomos-Phy­sis-Debatte. Auch dabei wird das Auseinanderfallen der ursprünglichen Einheit von Kultur und Natur, Ge­sellschaft und Kosmos, Gerechtigkeit und Weltordnung reflektiert. Mit dem endgültigen Zerbrechen die­ser zuletzt schon fragilen Einheit wird nach Ersatz gesucht und dieser im Gesetz der Polis, dem stren­gen Nomos, gefunden, der aber durch Epieikeia gelockert wird und – wenn nötig – ein indivi­dua­li­sierendes Eingehen auf den Einzelfall ermöglicht.

[117]. Dazu Assmann, Ma’at 20 ff.

[118]. Auf die Entstehung des Gewissens in Ägypten wurde bereits hingewiesen.

[119]. Dazu Assmann, Ma’at 213 f.

[120]. Assmann, Ma’at 214: „… das Böse liegt in der menschlichen Natur, die, wenn man sie nur ge­währen lässt, alle Chancen von Macht, Reichtum, Stärke und Einfluß nutzen wird, um die Schwä­che­ren zu unterdrücken“.

[121]. Diese Kompetenz war bei den Griechen, jedenfalls seit Solon, auf das Volk übergegangen.

[122]. Das könnte bedeuten, dass ägyptischer Einfluß bereits früher am Werk war.

[123]. Antiphons dritte Tetralogie, behandelt einen solchen Fall.

[124]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 209 mwH.

[125]. Die Existenz einer Klasse ‚Minderfreier’ stellt einen konzeptuellen Widerspruch zur Ma’at-Lehre dar; vgl Allam, Eine Klasse von Minderfreien (sog. merit) im pharaonischen Ägypten (2005).

[126]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft (2004).

[127]. Insbesondere Lloyd-Jones, The Justice of Zeus (1971) oder Harrison, Themis (1963) uam.

[128]. Ich fände es als lohnende Aufgabe, selbst mancher Frage künftig nachgehen zu können, aber ich zweifle ob mir mein groß angelegtes Werk über die ‚Griechen’ dafür den nötigen zeitlichen Spielraum lässt. Ich kann daher nur dazu ermuntern, manchen in der ägyptischen Geschichte noch verborgenen Schatz der Rechtsgeschichte zu heben.

[129]. Die inhaltliche Dimension einer so verstandenen und – insbesondere auch abgeleiteten – Rechtsstaatlichkeit besitzt erstaunlich moderne Züge und erscheint dem – im 19. Jh. stark gewordenen Rechtspositivismus überlegen. Denn die behandelten antiken Gesamtkonzepte stellen Vorläufer natur-, ja vernunftrechtlicher Konzeptionen dar und begnügten sich nicht (wie der Rechtspositivismus) mit formalen Kriterien. Recht musste danach schon damals, um als Recht anerkannt zu werden, gleichsam ein normativ-inhaltliches Sieb oder – wenn man will – eine Prüfinstanz (Ma’at, Eunomia) passieren, um zu ‚Recht’ zu werden, und als gesellschaftstaugliche Regel dienen zu können. Das hatte mit einer wei­te­ren Besonderheit des Ma’at- und idF des Eunomia-Konzepts zu tun, nämlich: Mit dem schalen- oder sphä­renartigen Aufbau, der von diesen frühen Gesellschaften erdachten (und gelebten) Gesamtheit des Seinsverständnisses. Danach umhüllte oder umschloß die in sich mehrfach gegliederte göttlich-kos­mi­sche Sphäre, die Sphäre der Natur, die häufig ebenfalls mehrschichtig oder mehrschalig zu denken ist; und diese beiden Sphären umschlossen und determinierten ihrerseits die Sphären/Schichten des eben­falls gegliederten Gesellschaftlich-Menschlichen.

[130]. Es erscheint durchaus realistisch, in jenem Segment beider Gesellschaftskonzepte (der Ma’at und der Eunomia), das den Schutz Schwacher und Armer etc verlangt, aktuelle Bezüge zu entdecken. Dieser ägyptisch-griechische Ansatz kann als Beginn sozialstaatlicher Vorstellungen betrachtet werden, deren Marginalisierung wir heute befürchten müssen. Mag es auch – wie schon im Altertum – nötig erscheinen, Inhalte und Gestalt der gesellschaftlichen Solidarität immer wieder an die sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.