Digesta 2007 |
SOLONS „EUNOMIA“
UND DAS KONZEPT DER ÄGYPTISCHEN „MA’AT“
EIN VERGLEICH
[Zu Volker Fadingers Übernahms-These]*
Heinz Barta, Innsbruck
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„Dass aber Zweifel bei jedem Versuche, in die Denkformen
so ferner Zeiten und uns so fremder Völker einzudringen, bleiben müssen,
wer wollte dies in Abrede stellen? Und wer wollte heute noch den Römern allein
die zeitliche Priorität aller juristischen Begriffsbildung vindizieren?“
Leopold Wenger, Nationales, griechisches und
römisches Recht in Aegypten (1936)
Einleitung
Das Ziel der folgenden Ausführungen ist ein bescheidenes: Es soll V. Fadingers These geprüft werden, dass Solons Eunomia-Vorstellungen inhaltlich namhaft ägyptisch beeinflusst sind. – Die These wurde vor etwa 10 Jahren formuliert. Es war nicht das erste Mal, dass – freilich meist nur nebenbei geäußerte – Vermutungen angestellt wurden, Solon habe im Rahmen seiner Gesetzgebung ägyptische Vorbilder übernommen. Solche Äußerungen erfolgen idR unter Hinweis auf die Bemerkungen von Herodot (II 177), Diodor (I 77, 5) und/oder Diogenes Laertios (I 55); vgl etwa I. M. Linforth[1] oder Kathleen Freeman[2].
Die Diskussion um einen mehr oder weniger großen ägyptischen Einfluß auf Solons Gesetzgebung wurde schon im Altertum geführt – und sie ist, wie wir sehen, bis heute nicht verstummt. Gefragt wurde dabei bislang insbesondere nach der Herkunft bestimmter solonischer Gesetze, nämlich des nomos árgias – einem Gesetz Solons, das Bürger, die keiner Beschäftigung nachgingen, bestrafte: – Ähnliches wurde von der solonischen Seisachtheia behauptet, für die ebenfalls historische Vorbilder, und zwar ägyptische wie mesopotamische, existieren.
Betonen möchte ich, dass ich nur Unfertiges und Unspektakuläres vorzulegen vermag, denn das behandelte Thema ist bestimmt auch mit meiner Auseinandersetzung noch nicht ausdiskutiert. Ich denke aber, dass es dieses Thema verdient, neuerlich behandelt zu werden, ist es doch über die Alte Geschichte und Altorientalistik hinaus auch für die Rechtsgeschichte und die Rechtsphilosophie – und sogar politisch von Bedeutung. Denn wenn die angesprochene Gleichung stimmt, dass Eunomia = Ma’at ist, bedeutet das nicht weniger, als dass das Fundament der europäischen Rechtsidee (der Gerechtigkeit) – und mit ihr der davon funktional abgeleitete Rechtsbegriff samt den Grundlagen unserer Rechtsstaatlichkeit – ein ‚Importprodukt’ aus dem Alten Orient darstellt[3].
Ich hoffe damit das Interesse des Jubilars zu finden, dessen fachliche Arbeit sich seit geraumer Zeit auch den vielschichtigen kulturellen Austauschbeziehungen zwischen den ‚Griechen’ und den Völkern des Vorderen und Alten Orients zugewandt hat[4]. – Da an weitere Zusammenarbeit gedacht ist, sei dieser Beitrag als interdisziplinäre Morgengabe eines an Alter Geschichte und Rechtsgeschichte interessiereten Juristen dargebracht. Vielleicht vermag solche Kooperation dem alten, aber immer noch auf Einlösung harrenden Gedanken einer Antiken Rechtsgeschichte – wenigstens auf begrenztem Gebiet – neues Leben einzuhauchen. Das könnte dazu beitragen, historische Korrekturen nach zwei Seiten hin zu bewirken: Einerseits könnte dadurch aufgezeigt werden, dass auch die Griechen (und nicht nur die Römer) einen bedeutenden Beitrag zur iurisprudentia perennis geleistet haben und andrerseits könnte wahrscheinlich gemacht oder da und dort sogar nachgewiesen werden wie viel auch die Griechen dem Alten Orient verdanken. – Der folgende Beitrag gehört zur letzteren Gruppe.
Zunächst kurze wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen:
Und die wissenschaftliche Beweislast in solchen Fragen kann mE nicht immer so einseitig verteilt werden, wie das bisher geschehen ist. In Frage kommt vielmehr die gesamte Beweislastpalette, wie sie auch im geltenden Recht Anwendung findet[6].
Man denke etwa an die entscheidenden Anregungen Ägyptens zur Entwicklung der bildenden Kunst (skulpturelle Großplastik), den monumentalen Stein- und Tempelbau[7] oder die Orientierung der griechischen Medizin[8] an ägyptischen Vorbildern. Und in Bezug auf die Literatur/en, die Weisheitslehren[9] und vor allem auch religiöse Vorstellungen sind die ‚Griechen’ nicht nur vom Nahen Osten, sondern auch aus Ägypten[10] und Mesopotamien sowie Persien beeinflusst worden. – Zu recht betont aber Walter Burkert[11]: „Weniger offen als in Architektur und bildender Kunst liegen Beziehungen im geistig-religiösen Bereich zutage“. Was sich unschwer auf den Rechtsbereich übertragen lässt. – Es scheint daher nicht verwunderlich, dass nicht erst seit heute vermutet wird, dass die Hellenen auch rechtlich manches von den alten Kulturen übernommen haben.
Vor meinem Eingehen auf Fadingers Thesen sollen Ma’at und Eunomia kurz skizziert werden; ich will dabei versuchen, die Darstellung solonischer Gedanken mit kurzen Hinweisen auf allfällige Parallelen zum Ma’at-Konzept zu verbinden.
Kurze Umschreibungen dieses ägyptischen Konzepts der Gesellschaftssteuerung sollen einen ersten Einblick vermitteln:
Solons Eunomia-Verständnis[16] wurde vielfach analysiert und beschrieben und dabei stets – wie nicht anders zu erwarten – mit gewissen Besonderheiten ausgestattet. Ich will idF versuchen, orientiert an Solons eigenen Aussagen, den Kern seiner Vorstellungen zusammenzufassen, verweise aber zuvor noch auf die literarischen Äußerungen von: Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen (1907)[17]; Ehrenbergs, Eunomia (1946) oder Jaegers, Solons Eunomia (1926/1960) oder dessen Praise of Law (1947) sowie Heinimanns Untersuchung über „Nomos und Physis“ (1945/1987)[18]. Auch Ch. Meier[19] versteht noch – wie die zuvor genannten Autoren – Solons Schaffen autochthon – ohne Seitenblick auf den Alten Orient.
Worum geht es Solon in seiner Staats- oder Eunomia-Elegie (die er schon vor seiner Tätigkeit als Aisymnet und Archont geschaffen hat)[20]?
Eunomia/Ευνομία[23] und ihre göttliche Schwester Δίκη/Díke[24] (die gerechte Vergeltung oder die Gerechtigkeit oder schlicht das Recht) kämpfen gegen Hýbris/ ‘ύβρις (Anmaßung, Überheblichkeit) und Bia/βία (Gewalttat) und ihr Sieg schafft Eiréne/’Είρήνη (Frieden); das ist die dritte der Moiren und Schwester von Dike und Eunomia, die alle Töchter der Themis[25] (und des Zeus) sind. Für Lloyd-Jones „this family was no doubt his [sc Hesiods] own invention“ und mythologische Genealogien „was for Hesiod a means of expressing his beliefs about the universe and the way in which Zeus governs it”[26].
Fadinger konzentriert seine Untersuchung auf zwei Hauptfragen, von denen die erste, sie betrifft den Vergleich von Solons Eunomia-Konzeption mit der „altägyptischen Ma’at-Lehre“ – wie er formuliert – „von der bisherigen Forschung überhaupt nicht gestellt“ und die zweite – sie fragt nach den „spezifischen Bedingungen“ unter denen sich Solons Denken entwickelte – bislang „nur sehr unzureichend“ beantwortet worden sei. Sein Forschungsansatz wurde in einem Sammelbandbeitrag[46] mit dem Titel „Solons Eunomia-Lehre und die Gerechtigkeitsidee der altorientalischen Schöpfungsherrschaft“ (1996) folgendermaßen formuliert:
„Es geht mir – so Fadinger – darum, die Eunomia-Konzeption Solons mit der altorientalischen ‚Schöpfungsherrschaft’, besonders jener der altägyptischen Ma’at-Lehre, zu vergleichen. Ich möchte herausfinden, welche geistigen, direkt oder indirekt aus den mesopotamischen und speziell den ägyptischen Weisheitslehren stammenden Impulse Solon zu seinem Gedicht und der darauf fußenden Gesetzgebung angeregt haben und inwieweit er diese Anregungen dann in einem ganz und gar eigenständigen Denkprozeß so umgeformt hat, dass er zum Schöpfer jenes einzigartigen Bürgerstaates werden konnte, der, ohne die zentrale Instanz eines Königtums, den Athenern erstmals Richtung und Ziel zu einer demokratischen Selbstverwaltung durch Teilhabe aller Bürger gewiesen hat. Das markiert den einzigartigen Sonderweg Griechenlands und Europas innerhalb der sogenannten Achsenkulturen als ‚einen Neubeginn der Weltgeschichte’“[47].
Dieser Forschungsansatz Fadingers erscheint vorbildlich, allein Fadinger hält sich idF nur teilweise daran. – Er war auch, wie erwähnt, nicht der erste, der eine Beeinflussung oder Abhängigkeit griechischer Gesetzgeber der Frühzeit – und insbesondere auch Solons, durch orientalisches Gedankengut konstatiert hatte.
Er selbst verweist auf Mühl[48], der in einer rechtsvergleichenden Studie zum Ergebnis gelangt war, dass sowohl Zaleukos (im epizephyrischen Lokri), Charondas (im sizilischen Katane) und Lykurg (in Sparta), als auch Drakon und Solon (in Athen) von „wesentlich älteren Gesetzeskodifikationen des Orients abhängig“ gewesen seien[49]. Das sei auch nicht weiter erstaunlich, bezeuge doch Diodor ausdrücklich, dass Solon, Lykurg und später auch Platon „zu Studienzwecken Reisen in den Orient unternommen und ‚viele der Gesetze aus Ägypten in ihre eigene Gesetzgebung eingeordnet hätten’“[50]. – Näher ausgeführt wird das nicht[51].
Im Anschluß führt Fadinger zwei Rezeptionsbeispiele Solons an:
Eine Ägyptenreise Solons vor seiner Gesetzgebungstätigkeit ist historisch nicht belegt, was nicht heißt, dass sie nicht stattgefunden hat; Fadinger äußert sich dazu nicht. – Solons Wissen um ägyptische Weisheitslehren, die Ma’at oder mesopotamische Vorbilder setzt aber weder eine Ägyptenreise, noch ein Treffen mit einem der in Frage kommenden Herrscher voraus. Er kann aufgrund der bestehenden historischen Situation[54] auch anderweitig Kenntnis von solchen Schriften erlangt haben. Belegt ist aber auch das nicht. – Historisch können daher nur vergleichende Rückschlüsse gezogen werden, die Solons (Gesamt)Werk – d. h. seine Dichtung und seine Gesetzgebung – mit Aussagen zur Ma’at und den ägyptischen Weisheitslehren vergleichen. Hier ergibt sich in der Tat – wie wir sehen werden – manche Parallele, wenngleich all das noch näher untersucht gehörte[55].
Hier liegt eine Schlüsselstelle für die Annahme eines möglichen historischen Einflusses auf Solon, denn er musste das ägyptische Ma’at-Konzept – und die erwähnten ägyptischen Einzelgesetze – oder allfällige mesopotamische Vorbilder vor dem Erlass seiner Reformen kennengelernt haben, um durch sie beeinflusst worden zu sein. Auf welche Weise auch immer. Und diesbezüglich unterscheiden sich offenbar die Geister[59]. Allein die Dichte der Quellenlage – vgl die Hinweise in Anm 51 – legt die Annahme nahe, dass Solon in Ägypten war. Nach der überwiegenden Mehrzahl der Quellenbelege besuchte Solon Ägypten aber erst, als er nach Abschluss seiner Gesetzgebung Athen verließ. Das schliesst nicht mit Sicherheit aus, dass Solon nicht dennoch schon früher in Ägypten war – zumal Plutarch erwähnt, dass er als weitgereister Mann zum Archonten bestellt wurde. – Fadinger hätte sich dazu äußern sollen, wie Solon zur Kenntnis ägyptischer oder anderer Texte gekommen sein konnte.
Fadingers Hinweis leidet ua daran, dass gerade für die Zeit um 700 v. C. – denn er behauptet, wie wir sehen werden, unnötigerweise auch einen (unmittelbaren?) ägyptischen Einfluss auf Hesiod und Homer, anders als früher und später – (wegen der assyrischen Fremdherrschaft über Ägypten) offenbar keine namhaften griechischen Kontakte mit Ägypten bestanden haben! Die politische Lage Ägyptens unterstreicht dies. Zu einer gewissen Stabilität gelangte Ägypten erst wieder unter König Psammetich I (664-610 v. C.), der dem Land nochmals wirtschaftliche Stabilität verschaffte und auch für einen kulturellen Aufschwung sorgte. Erst Psammetich gelang es, Ägypten wiederum unabhängig zu machen und der assyrischen Herrschaft zu entziehen[65].
Fadingers Ausführungen wurzeln – wie meine Kenntnisse über die Ma’at – vornehmlich in Assmanns Monographie über die Ma’at (19952). Das ist nicht zu tadeln. Auffallend erscheint aber, dass Assmanns differenzierte und subtile Ausführungen und Ergebnisse reduktionistisch rezipiert werden, was Fadingers Argumentationsbasis schwächt und dazu führt, dass manche – mE nicht unbedeutende – Parallele außer Acht bleibt. Mögliche Verbindungen Solons zur Ma’at-Lehre bestehen nämlich weit über die von Fadinger genannten Beispiele und Argumente – die nicht alle überzeugen – hinaus; etwa im wichtigen Bereich des Erbrechts[66]:
„Der Erbe ist zum Totenkult verpflichtet[67]. Daher ist die Vererbbarkeit eines Vermögens eine gewisse Garantie für das Fortdauern im Totenreich“ (Hervorhebungen von mir).
Es wurde eben erwähnt, dass der ägyptische Einfluss vielleicht auch noch andere Bereiche der solonischen Gesetzgebung beinflusst hat, die bisher unbeachtet geblieben sind. Zu nennen sind hier – ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit gestellt und diese Bereiche diesbezüglich hier näher untersucht werden können – die Entdeckung und religiöse, rechtliche und (wohl erst in Griechenland auch) politische Förderung des Einzelnen, die – vom religiösen Bereich[70] ausgehend, allmählich auch die anderen genannten Bereiche (nämlich Recht und Politik) erfasste[71].
„Verleumdung, Lästerung, Beschimpfung, Streit, Geschrei und natürlich auch Lüge waren ihnen ein Greuel. Der König wurde rituell geschützt gegen üble Nachrede, und die Menschen beteten zur Gottheit ‚um Errettung aus dem Munde der Menschen’ [Lehre des Amenemope]. Vor allem gehörten hierher die in ihrer Menge und Differenzierung höchst auffallenden Zungen-, oder besser, Kommunikationssünden, die das 125. Kapitel des Totenbuchs aufzählt“[74].
Dieser ‚Respekt vor der Macht des Wortes’ und die Freude an schöner Sprache[75] könnte auch als Vorbild für das spätere literarische und rhetorische Schaffen in Griechenland gedient haben; weniger für Solon selbst, als für spätere Generationen. – Die Rede war also nicht erst in Griechenland geschätzt, sondern schon in Ägypten. Sie diente dazu, um den Gemeinsinn zu pflegen und zu entwickeln und der Redefertigkeit haftete (daher) nichts Negatives an, diente sie doch einer guten Sache. Assmann[76] bringt dafür Beispiele. Ein eindrucksvolles stammt aus der Lehre für Merikare, einem Text des Mittleren Reichs, der bereits in der 9./10. Dynastie (nach 2120 v. C.) entstanden sein soll[77]:
„Sei ein Meister im Reden, um stark zu sein! Der Schwertarm eines Königs ist seine Zunge. Die Rede ist mächtiger als der Waffenkampf“.
Ma’at verlangte, um den Gemeinsinn zu fördern und zu bewahren, das „Aufeinander-Hören“ und das „Zueinander-Reden“. Als drohende Gefahr gilt der Verlust an Gemeinsinn[78]. – Diese Warnungen tauchen idF, wenngleich um vieles später, in griechischem Kontext bei Solon auf!
Ich darf hier daran erinnern, dass Solon ebenfalls eine so verstandene Gleichheit der Bürger nicht nur verbal in seiner Dichtung vertrat, sondern als Gesetzgeber auch bereits erste namhafte Schritte setzte, mag damit auch noch nicht eine vollständige politische Gleichheit der Bürger erreicht worden sein. Solon gilt übrigens auch als ‚Erfinder’ der Unterscheidung zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit (A. Verdross). – Und auch Solon bewertete die Ungleichheit negativ und setzte kompensatorische Massnahmen und er integrierte erste bedeutende (politische) Gleichheitspostulate in sein Gesellschaftskonzept der Eunomia! – Ich behaupte damit nicht, dass Solon all das aus Ägypten übernommen hat, aber Anregungen sind nicht auszuschliessen, ja sie erscheinen nahe liegend. Bleibt noch offen, wie dieses Wissen nach Griechenland gelangt ist.
Doch genug der unsicheren und andeutungsweisen Hinweise auf mögliche ägyptische Vorbilder. Allein hier hätten weitere Untersuchungen anzusetzen. Wir können aber auch aus diesen unsicheren Annahmen entnehmen, dass Ägypten für spätere Kulturen – insbesondere die Griechen – eine Fülle von Anregungen nicht nur auf religiösem, sondern auch auf normativ-rechtlichem Gebiet aufbereitet hatte. Das lässt Transfers und Rezeptionen nicht unwahrscheinlich erscheinen, zumal auch schon frühe kulturelle Kontakte zwischen Ägypten und dem ägäischen Raum bestanden haben[84]. – R. Rollinger und Ch. Ulf meinen[85]: „Es ist offenkundig, dass sich Kontakte zur orientalischen Welt nicht nur auf die orientalisierende Phase des 8. und 7. Jahrhunderts einengen lassen, sondern in wechselnder Intensität von den frühen Dark Ages bis in Klassische Zeit hineinreichen“. Und dieselben Autoren halten dafür, dass der orientalische Einfluss auf die griechischen Gesellschaften und Kulturen „nach wie vor unterschätzt“ wird[86]. – Ich teile diese Meinung.
Die von Fadinger angebotenen Belege und Argumente deuten – trotz ihrer Unvollständigkeit – in die Richtung, dass seine Ma’at-These wissenschaftlich ernst genommen werden sollte. Einmal abgesehen davon, dass Ergänzungen vorgenommen und Schönheitsfehler beseitigt werden müssen, sollten Fadingers Eunomia-Überlegungen weiterverfolgt und vertieft werden. – Überraschend für mich war es daher feststellen zu müssen, dass Fadingers Publikation aus dem Jahre 1996 bislang offenbar keine sichtbare Diskussion ausgelöst hat[87]. Und zwar auch dort nicht, wo das Thema – wie bei W. Schmitz – unmittelbar angesprochen wurde[88]. – Woran liegt das? Wurde hier an einem wissenschaftlichen Tabu gerührt? Oder wurden diese ins Rechtliche weisenden historischen Fragen nicht als attraktiv genug empfunden? Der erwähnte Befund könnte aber auch damit zusammenhängen, dass Fadingers Arbeit im Hinblick auf zentrale historische Fragestellungen noch als zu unvollständig betrachtet wurde, womit folgendes gemeint ist:
Der daraus von Fadinger gezogene Schluß erscheint mir aber noch fragwürdiger. Wir lesen bei ihm:
„… glaube ich, dass sowohl Homer wie Solon auf eine gemeinsame Quelle, nämlich die ägyptischen Weisheitstexte, zurückgehen“.
Das ist in Bezug auf Homer fragwürdig; und Hesiod wird hier von Fadinger – vielleicht in der Annahme seiner Homergefolgschaft – übergangen. Aber auch Hesiods Eunomia-Verständnis (in der Theogonie) ist kaum substanzieller als das Homers und bedurfte erst eines (erweiterten) Inhalts, der von Solon nachgereicht wurde; wohl unter teilweiser Verwendung ägyptischer Ma’at-Vorstellungen. Homer und Hesiod wurden dabei von Solon offenbar als normative Hülsen oder Gefäße verwendet, um die neuen Inhalte aufzunehmen. Es ist der sprichwörtlich neue Wein, der in alte Schläuche gefüllt wurde. – Hier liegt eine argumentative Schwachstelle Fadingers, die es – wenn wir einen ägyptischen Einfluss nicht abtun wollen, was aufgrund der historischen Fakten mE auch nicht besser wäre – nachzubessern gilt; denn ein namhafter ägyptischer Einfluß auf Homer ist bislang nicht nachgewiesen, mögen mittlerweile auch Einflüsse aus dem Nahen Osten als gesichert gelten[93]. Zudem – und das wiegt schwerer – ist das homerische und hesiodsche Verständnis der Eunomia noch ein anderes, inhaltlich unentwickelteres.
Dazu kommt, dass Fadinger weder zur Homerchronologie, noch zum Zeit-Verhältnis von Homer und Hesiod und zu jenem von Solon und Hesiod etwas ausführt. Letzteres teilt er allerdings mit sehr vielen Wissenschaftlern, die gerne die Hesioddatierung offenlassen (und von einer Parallelverschiebung mit Homer ausgehen. Ein zuletzt weitverbreitetes zeitliches ‚Herabdatieren’ der Abfassung der homerischen Epen – etwa um 700 oder gar zwischen 650 und 700 v. C. – erhöht aber vielleicht sogar den Möglichkeits-, ja Wahrscheinlichkeitsgrad eines ägyptischen Einflusses, denn in dieser Zeit (der beginnenden orientalisierenden Epoche) scheint der ägyptische Einfluß auf die Griechen tatsächlich in beachtlichem Ausmasse festzustehen[94]. – Hier gilt es noch nach weiteren Spuren und Belegen zu suchen und vorhandenes Wissen hermeneutisch gründlicher aufzubereiten und zu analysieren.
Die bei Fadinger angeführten Belege sind bislang zu ‚dünn’, um wirklich etwas beweisen zu können, mag auch historische Plausibilität für manche seiner Aussagen sprechen; vgl etwa aaO 199: „Dass zwischen griechischen Poleis und Ägypten ein reger Handels- und Gedankenaustausch stattfand, bezeugen nicht nur diese literarischen Zeugnisse und Solons eigene Worte, sondern auch der archäologische Befund. Über 1500 ägyptische Gegenstände der geometrischen und archaischen Epoche wurden aus der griechischen Erde ausgegraben“.
Fadingers Argumentation leidet auch daran, dass sie zu selbstreferentiell vorgeht und im Stile einer selffulfilling prophecy agiert. Das zeigt sich etwa an folgender Textstelle[95]:
„Es kann nach den bisherigen Ausführungen kein Zweifel mehr bestehen, dass Solon die höchste Norm und den umfassenden Ordnungsbegriff der altorientalischen ‚Schöpfungsherrschaft’ in der ägyptischen Variante von Ma’at mit Eunomia ins Griechische übersetzte [?][96] und ihm mit Dysnomia [!] das griechische Äquivalent zu ägyptisch Isfet gegenüberstellte“. – Fadinger fügt dieser Aussage im Anschluß noch hinzu: „Es wäre auch erstaunlich, wenn der griechische Gesetzgeber [sc Solon] bei seinem Studium der ägyptischen Gesetzgebung nur einzelne Gesetze und die Modalitäten ihrer Publikation, nicht aber die höchste Rechtsnorm [?] und das universale Ordnungsprinzip übernommen hätte, die beidem zugrunde lagen“. – Auch dieses Argument steht auf tönernen Beinen!
Man fragt sich nach diesen Sätzen, wo Fadingers eigene Hinweise auf Homer und Hesiod geblieben sind. Denn eine ‚Übersetzung’ des Begriffs ‚Eunomia’ war nicht mehr nötig, er ist ja schon homerisch und auch Hesiod bekannt.
Will man Fadingers These nicht verwerfen, muss festgehalten werden: In Frage kommt nur ein Ausbau, eine inhaltliche Vertiefung und Ergänzung vorhandener Ansätze und nicht ein völliger Neubeginn. Diese historisch realistischere Weichenstellung vorzunehmen hat Fadinger versäumt.
Offen gesagt: In mir regt sich kein Widerstand, hier eine (Teil)Rezeption anzunehmen, wohl aber gegen die Art und Weise, wie hier versucht wurde, diese keineswegs unbedeutende These wissenschaftlich zu präsentieren.
Solon machte sich danach – so Fadinger (aaO 202) – das „wichtigste Axiom der ägyptischen Staatslehre zu eigen“:
„Ohne den Staat herrscht nicht Ma’at/Eunomia auf Erden, sondern Isfet/Dysnomia. Was Isfet ist, erfahren wir aus den sogenannten ägyptischen Chaosbeschreibungen. Im moralischen Kontext reden vom Chaos die ‚Klagen’ der Weisheitsliteratur, im politischen die Königsinschriften und Gesetzestexte, wenn sie Epi- und/ oder Prolog die rechtspolitische Begründung für die Notwendigkeit der Gesetzeskodifikation geben“.
Für Fadingers These von Bedeutung ist sein Hinweis, dass die ägyptische Lehre der Ma’at iVm der Weisheitsliteratur und den ‚Klagen’ immer dann besonders betont wird, wenn Umsturz, Chaos, Bürgerkrieg udgl. drohen oder schon eingetreten sind. Und das sei auch der Handlungsrahmen Solons gewesen[97].
Fadinger weist (aaO 203) darauf hin, dass es in der ägyptischen Spätzeit der XXVI. Dynastie der Saiten (664-525 v. C.) zur intensivsten Begegnung von Griechen und Ägyptern gekommen sei, und auch damals noch die „alte Tradition der Weisheitslehren über Ma’at und Isfet intensiv gepflegt“ worden sei, was E. Otto (Die biographischen Inschriften der ägyptischen Spätzeit, 1954) überzeugend nachgewiesen habe. – Dem ist beizupflichten, nur spricht das eher gegen frühere ägyptische Einflüsse auf die ‚Griechen’, insbesondere auf Homer und Hesiod. Gleichzeitig würde dadurch ein vor-solonischer ägyptischer Einfluß bspw auf Drakon (und zuvor vielleicht schon auf den Delphischen Apollon) verständlicher.
Fadingers Ausführungen sind trotz gewisser Einwände von historischem Interesse und verdienen ua aus rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Gründen Beachtung: Man wüsste aber gerne mitunter etwas mehr. Etwa warum und wie Hesiod und Homer ägyptische Weisheitslehren übernommen haben könnten?
Fadinger erblickt zutreffend in der bestehenden politischen Instabilität (Gesetzlosigkeit, Chaos, erneut drohender Bürgerkrieg etc) eine Parallele zwischen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Solons Gesetzgebung und dem Entstehen und der Weiterentwicklung der Ma’at-Lehre; für die Ma’at-Lehre traf diese Feststellung schon Assmann. – Auf der anderen Seite wissen wir mittlerweile durch W. Schmitz[98], dass Solon größtenteils altes bäuerliches Gewohnheitsrecht ‚kodifizierte’. Und zu dieser solonischen Normgruppe gehörte auch der nomos árgias. Es dürfte sich dabei um die Normierung von bestehendem bäuerlichem Gewohnheitsrecht gehandelt haben, das bei dieser Gelegenheit eine Erweiterung seines Anwendungsbereichs erfuhr, nicht aber um eine völlige legistisch-inhaltliche Neuschöpfung. Dadurch wird zumindestens eine ausschliesslich ägyptische Rezeption dieses Gesetzes – und zwar für Solon, Drakon und Peisistratos, denn sie alle wurden als Schöpfer des nomos árgias genannt, ausgeschlossen; nicht dagegen eine weniger weit reichende Überlegung im Sinne einer Teilrezeption. – Ich führe idF Belege aus dem Buch von W. Schmitz an, um die historische Lage dieser Einzelfrage weiter abzuklären. Ich beschränke mich dabei auf das Notwendige[99]:
Viel klüger wird man daraus im Hinblick auf unsere Fragestellung auch nicht, zumal Schmitz einen ägyptischen Einfluss ausblendet. – Man kann dazu festhalten, dass Fadingers zentrale Rezeptionsthese der Eunomia an und für sich davon unabhängig ist, ob der nomos árgias und die solonische Seisáchtheia aus Ägypten oder Mesopotamien stammen oder nicht, wenngleich ein solcher Nachweis günstig auch für die Zentralthese einer (teilweisen) Übernahme des Eunomia-Gedankens aus Ägypten wäre.
Neben den bereits erwähnten – mehr oder weniger wahrscheinlichen oder doch möglichen – Einzel-Rezeptionen oder -Transfers aus dem Alten Ägypten ins archaische Griechenland, soll noch versucht werden, auf der von Jan Assmann und anderen erarbeiteten ägyptologischen Grundlage der Ma’at, eine Aufstellung grundsätzlicher Parallelen der beiden gesellschaftlichen Steuerungsmodelle zu erstellen. In diesen Rahmen könnten künftig ‚kleinere rechtshistorische Baukastenteile’ eingeordnet werden, um schließlich ein tragfähiges Gesamturteil zu ermöglichen oder zu erleichtern.
(Weitere) Parallelen zwischen der ägyptischen Ma’at und Solons Eunomia[103]
Nahezu alle diese Werte fanden auch in der solonischen Dichtung und Gesetzgebung Berücksichtigung. – Und Solon bediente sich ebenfalls der ‚Negativtechnik’ und stellte – wie die Ägypter – diesen Negativwerten Eunomia positiv gegenüber: Er brandmarkte die Torheit der Bürger, deren ungerechten Sinn, ihren Luxus und Überfluß, ihre Habgier, die auch vor öffentlichem und Tempelgut nicht Halt mache, ihre mangelnde Ehrfurcht vor Dike, das schlimme Schicksal der Armen und Schwachen, den bürgerlichen Mangel an Recht uam. Dagegen stellt er seine Eunomia, die Ordnung schaffe, Böses Tun hemme, Hochmut (Hybris), Rohheit und Überfluss hindere, Unheil schon im Keim ersticke, Zwietracht vernichte, Streit glücklich beende und niedergetretenes Recht wieder aufrichte usw.
Wenn sich überhaupt stichhaltige historische Beweise für eine namhafte Rezeption Solons aus ägyptischen Quellen erbringen lassen, dann liegen diese mE vornehmlich in den in Solons Werk auffindbaren ‚kleinen’ Indizien, die ‚Zufälle’ mE ausschliessen, etwa:
Bedenkenswert erscheint mir – aus allem Angeführten – immer noch Fadingers Gesamturteil über Solons legistische ‚Orientierungs’-Leistung (durch sein Eunomia-Konzept)[124], zumal dieses Konzept – wie erwähnt – nur der gedanklich-ideologische Überbau von Solons Gesetzgebung gewesen ist. – Es sei daher in Erinnerung gerufen, dass erst das Einbeziehen und gleichzeitige legistische Erweitern und Vertiefen des bereits existenten griechischen Eunomiagedankens Solon die Möglichkeit geboten hatte, die disparaten und gedanklich alles andere als geschlossenen Teile seiner Gesetzgebung unter ein einheitliches gedankliches und – vor allem auch – prinzipielles ‚Dach’ zu stellen: nämlich die (im Leben wie nach dem Tod Geltung beanspruchende) Idee der Gerechtigkeit in ihrer nunmehr aktualisierten und adaptierten griechischen Form der Eunomia.
Und es soll ebenso in Erinnerung gerufen werden, dass diese ‚Idee’ als gesellschaftliches Gesamtsteuerungskonzept schliesslich zur europäischen Rechtsidee geworden zu sein scheint, die, so lässt sich heute sagen, durch mehr als zweieinhalb Jahrtausende – zwar immer wieder verdunkelt und getrübt – eine letztlich ungebrochene Strahlkraft ausgeübt hat. Der historischen Entstehung dieses zentralen rechtlichen Konzepts nachzugehen, erscheint daher nicht unnütz und besitzt – das ist ein interessanter side-effect – Aktualität: Denn die Rechtsidee oder das Konzept der Gerechtigkeit ist auch heute wiederum bedroht und dies national und international; ich komme darauf noch zu sprechen. Und dies als Bruch einer mehr als 2600 Jahre alten (europäischen) Gesellschafts-Orientierung aufzuzeigen, scheint mir nichts Nebensächliches. Und wenn wir die möglichen ägyptischen Wurzeln dieses Konzepts hinzunehmen, können wir nochmals etwa eineinhalb Jahrtausende dazulegen. Das verdient unseren historischen Respekt und unsere Bewunderung. – Und noch etwas: Ma’at, (und idF Eunomia sowie Gerechtigkeit als Rechtsidee) war schon nach ägyptischem Verständnis nicht etwas, das mit einem Schlag oder einem genialen Schöpfungsakt ein für allemal hergestellt und gesichert werden konnte; dieses gesellschaftliche Prinzip erfuhr vielmehr schon in ägyptischer Zeit tiefgreifende Korrekturen und Ergänzungen, bedingt durch schwere politische Krisen und bedurfte darüber hinaus ständiger gesellschaftlicher Anstrengungen.
Zurück zu Fadingers Gesamturteil über Solon und Ägypten:
„Die universalhistorisch einmalige Leistung Solons bestand also – so Fadinger – darin, dass er das uralte Gerechtigkeitsideal des ägyptischen und mesopotamischen Gottkönigtums aus seinem festen Bezug zum Herrscher gelöst und für das Handeln aller Bürger ohne die institutionalisierte Zwischeninstanz eines Mittlers zur verbindlichen Richtschnur erhoben hat“.
Diese Aussage verdient unsere Beachtung. – Der von Fadinger zu recht hervorgehobene solonische Teilhabegedanke aller Bürger am Staatsgeschehen kennt in der Tat keine unmittelbaren antiken Vorbilder, weder in Ägypten, noch im mesopotamischen Bereich. Er erscheint genuin griechischen Ursprungs. – Aber war das wirklich so? Ja und Nein! Denn sowohl Solons Freiheitsgedanke, wie seine Orientierung an der Gleichheitsidee und der daraus abgeleitete Teilhabegedanke sind – bis zu einem gewissen Grad – ägyptisch vorgeprägt; auch die Ma’at bedurfte der Partizipation aller: angefangen beim König und den Staatsorganen, aber auch aller Einzelnen. Und teilnehmen konnte an diesem Werk nur, wer seinerseits nicht unterdrückt wurde, also frei war, was Ma’at grundsätzlich zu gewährleisten hatte[125]. – Insofern besteht auch diesbezüglich eine größere gedankliche Kontinuität der Entwicklung, als es zunächst scheinen will.
Versuchen wir ein vorläufiges Resümee zu ziehen: Fadingers Arbeit ist verdienstvoll und eröffnete neue historische Sichtweisen, die sich bei weiterer Klärung, Ausarbeitung und Vertiefung (unter Berücksichtigung neuester Forschungsergebnisse – betreffend den Einfluß des Alten Orients auf die Griechen), zu einem klärenden Verständnis dieser interkulturellen Austauschbeziehung zusammenfügen könnten. Um zu einer solchen Sichtweise zu gelangen, muß aber noch eine Reihe offener Forschungsfragen geklärt werden, von denen einige hier genannt wurden. – Durch die hier gestellten Fragen, die vorgenommenen Ergänzungen und die erhobenen Einwände soll insbesondere eine modifizierende Übernahme der Eunomia-Doktrin aus der ägyptischen Ma’at-Lehre nicht ausgeschaltet werden. Gelänge ein solcher Nachweis, wäre das vielmehr zu begrüßen; denn der Parallelen und Ähnlichkeiten bestehen in der Tat viele. Aber bis das erreicht ist, erscheint die nötige wissenschaftliche Vorsicht geboten. – Fadinger wäre daher zu raten, sich bspw mit den Ergebnissen von W. Schmitz[126], der anglo-amerikanischen Literatur[127] und vor allem – genauer – mit Assmanns bahnbrechender Monographie auseinanderzusetzen und dabei insbesondere auch den älteren griechischen Gerechtigkeitsvorstellungen und der Verwendung des Eunomia-Begriffs bei Homer, Hesiod ua nachzugehen[128].
Könnte es nicht sein, dass Solon – gestärkt und vielleicht auch beeindruckt durch ägyptische Anregungen – den zwar bereits bekannten, aber inhaltlich noch wenig gehaltvollen und ungenauen homerischen und hesiodschen Begriff der ‚Eunomia’ angereichert und zu einem gesamtgesellschaftlich-normativen Funktions- und Steuerungskonzept ausgebaut hat, das schliesslich in dieser Form zur Grundlage der bis heute wichtigen europäischen ‚Rechtsidee’ und – des daraus erwachsenden ‚Rechtsstaatsgedankens’ wurde?[129] – Für die Polisidee war das förderlich.
Lassen Sie mich zuletzt noch einige Sätze zur Aktualität meines Themas sagen: Die Frage der Gerechtigkeit muss in Gesellschaften immer wieder neu gestellt und beantwortet werden – und sie ist daher auch unserer Zeit aufgegeben, ja sie erscheint heute dringend einer neuen Antwort zu bedürfen, zumal ua die (im Rahmen des akzelerierten sozialen Wandels) fortschreitende Individualisierung so wichtig sie in bestimmter Hinsicht war und ist – den gesellschaftlichen Zusammenhalt, was wir auch Solidarität nennen, zu zerstören droht. – Die Konzepte der ägyptischen Ma’at und der solonisch-griechischen Eunomia waren nichts anderes, als solche gesellschaftlichen Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Einzelnem und Gemeinschaft[130]; und insofern enthalten sie Anregungen auch noch für uns Heutige. Schon deshalb, weil uns diese Konzepte daran erinnern, dass die genannte gesellschaftliche Beziehung sich nicht von selbst einstellt, sondern immer wieder neu gefunden werden muß. Und wir befinden uns gegenwärtig auf einem gefährlichen Weg, der die Solidarität aushöhlt und damit die soziale Kohärenz unserer Gesellschaften zu zerstören droht. Der überbordende Neoliberalismus lässt für die als wichtig erkannte Beziehung wenig Raum. – Betrachten Sie daher meine Ausführungen auch als eine Anregung zu dieser – damals wie heute unverzichtbaren, wenngleich schwierigen – gesellschaftlichen Aufgabe.
Literatur:
Allam Sch. (Hg), Grund und Boden in Altägypten. Rechtliche und Sozio-Ökonomische Verhältnisse. Akten des internationalen Symposions, Tübingen 18.-20. Juni 1990 (Tübingen, 1994)
Allam Sch., Publizität und Schutz im Rechtsverkehr, in: Allam (Hg), Grund und Boden in Altägypten 31 ff (1994)
Allam Sch., Recht im pharaonischen Ägypten, in: Manthe (Hg), Die Rechtskulturen der Antike 15 ff (München, 2003)
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* Dieser Text lag meinem Vortrag auf der Tagung „Lebend(ig)e Rechtsgeschichte. – Rechtsgeschichte und Interkulturalität – Zum Verhältnis des östlichen Mittelmeerraums und ‚Europa’ im Altertum“, gehalten am 14. Oktober 2005, zugrunde.
[1]. Solon the Athenian 281 (1919).
[2]. The Work and Life of Solon 135 ff (1926; Reprint: 1976). Freeman meint zurückhaltend: „But the probability is that it [sc der nomos árgias] was not borrowed from Egypt”. Das erscheint mir grundsätzlich zutreffend, sagt aber nichts aus über eine allfällige Übernahme des – oder von Teilen des – Ma’at-Konzepts durch Solon.
[3]. Die Konsequenzen wurden bisher offenbar noch nicht hinreichend bedacht und träfen das mitunter auftrumpfende europäische Selbstbewusstsein in den Augen mancher empfindlich. – Aber von einer universalgeschichtlichen Perspektive oder auch nur einer Antiken Rechtsgeschichte ist die deutschsprachige Rechtsgeschichte – trotz eines Ludwig und Heinrich Mitteis, eines Leopold Wenger und anderer Vorkämpfer – wohl noch weit entfernt. Und ein unentwickelter Selbstwert bedarf der Kompensation. – Im Buch „Graeca non leguntur“? gehe ich ausführlich auf das griechische Gerechtigkeitsdenken, also das, was wir heute Rechtsidee nennen, ein.
[4]. Ich erinnere an so instruktive und für die Frage der historischen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Rezeptionen und Kulturtransfers so instruktiven Arbeiten wie: „Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca 590 v. Chr.“ (1996) oder „Kontakte zwischen Griechen und Ägypten und ihre Auswirkungen auf die archaische Welt“ (2004).
[5]. Ich verweise diesbezüglich auf einen Vortrag Leopold Wengers (Nationales, griechisches und römisches Recht in Aegypten) aus dem Jahre 1935, wo diese bis heute aktuellen Fragen bereits thematisiert wurden. Wenger äußert sich hier kritisch zur Haltung vieler Vertreter des römischen Rechts gegenüber dem griechischen und anderen Rechten und ist bestrebt, „das Problem der ‚Antiken Rechtsgeschichte’ gegen Missverständnisse [zu] klären“. Dazu führt er aaO 164 aus: „Was wir wollen, ist nicht eine isolierte Betrachtung babylonischen, ägyptischen und sonst orientalischen, ferner griechischen Rechtsgutes … sondern es handelt sich uns um eine zusammenfassende Betrachtung der Rechtswelt des ganzen Altertums – nicht bloß der griechisch-römischen ‚Antike’ im engeren Sinne – freilich vom Blickpunkt des griechisch-hellenistischen und letzten Endes des römischen Rechtshistorikers aus“.
[6]. Unterscheiden lassen sich dabei Beweis(pflicht)abstufungen, die von ‚normaler’ Beweislast, über Beweiserleichterungen bei Kausalitätsverdacht, den Anscheins- oder Prima-Facie-Beweis, bis hin zur Beweislastumkehr reichen. Dabei wäre es sinnvoll auch im Bereich der (Rechts)Geschichte zwischen bloßer Möglichkeit und bereits beweisbegründender Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden; vgl meine Ausführungen, in: Zivilrecht II 597 – Foliendarstellung (20042).
[7]. Dabei scheint bisher die nahe liegende Möglichkeit noch gar nicht oder doch zu wenig in Betracht gezogen worden zu sein, dass bspw mit dem ägyptischen Tempelbau auch organisatorische und rechtliche Strukturen der Tempelverwaltungen rezipiert worden sein könnten. Dass das aber in der Tat historisch eine Rolle gespielt haben könnte, zeigte uns der wichtige Vortrag auf der heurigen Tagung „Lebend(ig)e Rechtsgeschichte“ (2005) von Sch. Allam: „Überlegungen zur persona ficta im altägyptischen Stiftungswesen“, dessen Beweismaterial die seit etwa 70 Jahren umstrittene Frage, ob die ägyptische Stiftung bereits eine juristische Person war oder nicht, wohl endgültig im bejahenden Sinne entschieden hat; vgl zu dieser Auseinandersetzung schon L. Wenger, Nationales, griechisches und römisches Recht in Aegypten (1936).
[8]. Vgl Pichot, Die Geburt der Wissenschaft 219: Danach genossen ägyptische Ärzte im Altertum großes Ansehen; „Einer Tradition zufolge soll Hippokrates einen Teil seiner medizinischen Ausbildung … in Memphis absolviert haben“. – Herodot II 84 weist auf die hohe Spezialisierung in der ägyptischen Medizin hin.
[9]. Vgl insbesondere Burkert, Die Griechen und der Orient (2003).
[10]. Dazu Burkert, Die Griechen und der Orient 79 ff: Orpheus und Ägypten; hier wird auch auf Verbindungen zwischen Dionysos und dem Osiriskult eingegangen. Die historische und religionsgeschichtliche Einschätzung der Orphik ist aber umstritten; vgl die Hinweise bei Burkert, aaO 83.
[11]. Die Griechen uund der Orient 80.
[12]. Stele des Königs Neferhotep; J. Assmann, Ma’at 283.
[13]. Das Alte Ägypten 13 f. – Eine eingehende Darstellung der Entwicklung der Ma’at bringt Westendorf, Ursprung und Wesen der Maat (1966).
[14]. Justitia ist bis heute weiblich! – Zu Themis (als Gattin des Zeus) und Dike deren Tochter: Harrison, Themis 480 ff.
[15]. Zur Ma’at als Göttin: Assmann, Ma’at 161 ff. – Das solonische Begriffspaar hieß, wenngleich nicht mehr personifiziert, Eunomia und Dysnomia. – Die ägyptische (Rollen)Spaltung in Ma’at als Göttin des Kosmos und Ma’at als menschlich-gesellschaftlich-verhaltensleitendes Prinzip zeigt sich auch noch in der griechischen Mythologie, wo zunächst Themis/Θέμις ebenfalls als persönliche Göttin (und Gattin des Zeus als höchstem Rechtswahrer) auftrat und daneben das von ihr stammende Verhaltensprinzip existierte: themis estin/θέμις ’έστιν/es ist Recht. Themis ist Tochter des Uranos und der Gaia und sie gebar aus ihrer Verbindung mit Zeus die Moiren oder Horen (Eunomia, Dike und Eirene). Nach Aischylos (Prometheus 18) ist sie auch Mutter des Prometheus. Wahrscheinlich diente ihr bereits die Waage als Gerechtigkeitssymbol; zum ägyptischen Totengericht, bei dem ebenfalls die Waage schon eine bedeutende Rolle spielte Assmann, Ma’at 133, 164. Umfassend zu Themis das gleichnamige Buch von Harrison (1911/1963).
[16]. Ich gehe darauf in Kapitel II 7, 8, 15 und 16 meines buchs („Graeca non leguntur“?) noch näher ein. – Zur Bedeutung der solonischen Reformen für die Entwicklung des politisch-demokratischen Teilhabegedankens ua M. Stahl, Solon F 3D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens (1992).
[17]. Dazu Lesky, Grundzüge griechischen Rechtsdenkens 5 ff (1985): I. θέμις und δίκη sowie ebendort 5 ff (1986): II. Νόμος mwH. Lesky geht auf die Entwicklung, Unterscheidung und Überschneidung der Begriffe qέμις, δίκη, νόμος und θεσμός ein und unterscheidet insbesondere auch zwischen dem zeitlich unterschiedlichen Verständnis von νόμος. In Teil I, S. 89 findet sich eine Kritik an Hirzels Themisdeutung.
[18]. Ich gehe darauf im ‚Buch’ in Kapitel II 7 ein. – Heinimann behandelt aaO 64 auch die frühe Verwendung des Gegensatzpaares Eunomia und Dysnomia bei Hesiod ein.
[19]. Zur Entstehung des Politischen bei den Griechen 225.
[20]. Abgedruckt etwa bei Miltner, Solon. Fragmente (1955) und Preime, Solon: Dichtungen. Sämtliche Fragmente (1940); eine englische Übetrtragung von Solons Dichtung bietet Freeman, The Work and Life of Solon. With a Translation of his Poems (1926/1976).
[21]. Grundlegend Harrison, Themis 480 ff.
[22]. The Justice of Zeus 44.
[23]. Lloyd-Jones, The Justice of Zeus 36 Fn 43 uH auf V. Ehrenberg und M. Ostwald 63 f: „... the notion of eunomia connotes both the possession od good laws and the disposition to obey them”.
[24]. Lipsius I 11 weist darauf hin, dass Dike/Δίκη zuerst bei Hesiod personifiziert ist. Zu Bedeutung und Verwendung von Dike in der Ilias: Lloyd-Jones, The Justice of Zeus 166 Fn 23 uH auf E. Wolf I 85 f.
[25]. Wichtige Ausführungen zum frühen griechischen Verständnis von Themis – das idF offenbar in den Begriff der ‚Eunomia’ einfliesst – finden sich bei K. Latte, Rechtsgedanke 77 ff: Danach bedeutet der Begriff in seinen historisch noch fassbaren Wurzeln, das der Gemeinschaft Dienliche, das Richtige, das, was Frieden bringt, die Gleichheit der Rechtsgenossen wahrt (Gleichheit vor dem Recht war demnach offenbar schon vor-solonisch als Rechts-wert von Bedeutung) und dadurch Gerechtigkeit schafft. Insofern ist Themis Gegenspielerin von Hybris. Themis umfasste demnach die gesamte Breite des positiven Sozialverhaltens, nämlich Sitte und Brauch ebenso wie das Rechtsdenken und Rechtshandeln unter den Griechen.
[26]. The Justice of Zeus 36.
[27]. Hesiod steht wie Homer historisch nicht isoliert da, sondern in einer historischen Austauschbeziehung zu anderen Kulturvölkern, insbesondere Mesopotamien und Ägypten; dazu Burkert, Die Griechen und der Orient 28 ff und 55 ff sowie Rollinger, Altorientalische Motivik in der frühgriechischen Literatur am Beispiel der homerischen Epen 156 ff. – Wer denkt bei Hesiods Klagen über die Ungerechtigkeit der Mächtigen/Basilées und seines Bruders nicht an die freilich viel älteren ägyptischen „Des Bauern Reden wider die Korruption“ (~ 21. Jh. v. C.); abdedruckt in: Schüssler (Hg), Pharao Cheops und die Magier 29 ff. – Allgemein zur Begegnung der Griechen mit den Völkern des Alten Orients: Weiler, Soziogenese und soziale Mobilität im archaischen Griechenland (1996) und insbesondere P. W. Haider, Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr. 59 ff (1996) und derselbe, Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaisch-griechische Welt 447 ff (2004).
[28]. Vgl Werke und Tage, Verse 259 ff.
[29]. Ich erinnere an die schöne Stelle der ‚gegabelten Weltordnung’ in den Erga (Verse 275 ff). Sie lautet: „Perses, o mögest Du dies im Herzen bewahren,/Höre immer aufs Recht und niemals übe Gewalttat [Hybris],/Denn diesen Nomos erteilte Kronion den Menschen./Bestien zwar und Fische und flügelspannende Vögel/Mögen einander verschlingen, denn die ermangeln des Rechts,/Aber den Menschen verlieh er das Recht,/Das höchste der Güter“.
[30]. Die Parallelen sind zum Teil verblüffend: So entsprang auch Ma’at (wie später Athene) dem Haupt ihres Erzeugers Re; Nachweis bei Assmann, Ma’at 161 (ohne Bezugnahme auf Athene).
[31]. Demotisierung: von Demos, gr. Volk, weil nun jeder mit einer unsterblichen Seele ausgestattet erschien.
[32]. Zum Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit nach ägyptischen Vorstellungen: Assmann, Ma’at 124. Danach setzt die Gerechtigkeit die Wahrheit in Lebenspraxis um.
[33]. Das galt auch für Themis.
[34]. Vgl Assmann, Ma’at 121.
[35]. Vgl etwa Assmann, Ma’at 109 f: In der biographischen Inschrift des Mentuhotep wird auf ein Sprichwort Bezug genommen – „Das Denkmal eines Mannes ist seine Tugend,/der mit schlechtem Charakter aber wird vergessen“. Ob es in diesem Bereich zu Transfers gekommen ist, wissen wir nicht, auszuschliessen ist das aber nicht. – Berichtenswert erscheint mir eine andere – uns heute fast fremde – Übereinstimmung von ägyptischem und griechischem Rechtsdenken; Assmann, Ma’at 109 berichtet davon, dass die ägyptische „Affektenlehre, die Affekte nicht in der empfindenden, sondern in der auslösenden Person lokalisiert“; danach werden Affekte wie Liebe und Haß ‚eingeflösst’. Dieselbe Vorstellung findet sich (noch) – wie ich feststellen konnte – in der rechtlichen Schuldlehre der Griechen bei Antiphon, Platon und Aristoteles; dazu nunmehr in meinem Beitrag: Die Entstehung der Rechtskategorie ‚Zufall’ etwa 44, 56 f, 86 ff.
[36]. Zu Alter und Entwicklung: Assmann, Ma’at 126 ff. – Mit dem Totengericht kommt das Bild-Symbol der Waage auf, denn das menschliche Herz wird gegen die Ma’at aufgewogen; vgl Assmann, Ma’at 124 sowie 132 ff und 164. – Assmann (Ma’at 130 f) geht auch auf den Prozess post mortem ein, den wir durch die Schilderung Diodors (I 92.4 f) kennen.
[37]. Assmann, Ma’at 125 Fn 8 weist darauf hin, dass sich die Unsterblichkeitsidee der Seele (verbunden mit einem paradiesischem Jenseits) und die Annahme eines Totengerichts gegenseitig bedingen; und er verweist diesbezüglich auf Griffiths (The Idea of Posthumous Judgement 193, [1983]): „It is significant that when the Greeks took over the idea of a happy Elysium, they also accepted the idea of judgment after death“.
[38]. Näheres bei Assmann, Ma’at 122 ff.
[39]. Eine solche Annahme lag mir bisher fern. Nunmehr aber, nach der Lektüre von Assmanns, Ma’at, tat sich manch’ neuer Zusammenhang auf, ua dieser.
[40]. Vgl Assmann, Ma’at 80 ff. – Ähnliche Anregungen könnte Solon den ägyptischen Texten im Hinblick auf Milde/Billigkeit (Epieikeia), Gewalt und Hybris entnommen haben; vgl den bei Assmann aaO abgedruckten Text des Gesprächs des Lebensmüden mit seinem Ba.
[41]. Wie tief die ägyptischen Vorstellungen von Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit mit religiös-mythologischem Denken verbunden sind zeigt auch Westendorf, Ursprung und Wesen der Maat (1966).
[42]. Solon weist hier eindringlich auf die drohenden Konsequenzen für seine Heimat hin.
[43]. Hier findet sich erstmals die später bei den Griechen so starke Vorstellung einer kollektiven Dimension von (persönlicher) Schuld mit irdischer Auswirkung. Wohlverhalten dient danach nicht nur der eigenen Rechtfertigung (im Jenseits, neben dem Erfolg im Erdenleben), sondern auch dem Wohlergehen der Kinder und Kindeskinder. UH auf E. Otto weist Assmann (Ma’at 158 f) darauf hin, dass dies mit der wachsenden Skepsis zu erklären sei, „mit der in den [sc ägyptischen] Inschriften von einem Jenseitsleben die Rede ist“. Diese Skepsis gegenüber einem Weiterleben im Jenseits übernahmen die Griechen vielleicht ebenso wie den Glauben an eine Kollektivschuld. Dieses religiösen Ballasts begann man sich erst unter dem Einfluß der Sophistik am Ende des 5. Jhs. v. C. zu entledigen.
[44]. Vgl Assmann, Ma’at zB 55: Damit wird der gesellschaftliche Wert der Solidarität angesprochen.
[45]. Dazu später bei Anm 119.
[46]. Gehrke/Möller (Hg), Vergangenheit und Lebenswelt (1996).
[47]. Fadingers Einschätzung der Leistungen Solons stimmen mit meinen Ergebnissen grundsätzlich überein. – Die Schlussworte im Zitat Fadingers stammen aus Ch. Meiers Werk, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte (1993), das von Fadinger zitiert wird. – Eine Auseinandersetzung mit dem mittlerweile nicht unproblematischen Begriff der ‚Achsenzeit’ – er geht auf K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1948) zurück – findet sich bei Assmann, Ma’at 24 ff.
[48]. Untersuchungen zur altorientalischen und althellenischen Gesetzgebung (1933).
[49]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 181.
[50]. Nachweise zu Diodor, Aristoteles, Plutarch und Solon bei Fadinger, aaO 181 Fn 8. Vgl aber etwa auch schon Linforth, Solon the Athenian 281.
[51]. Vgl dagegen die Reiseangaben bei Linforth, Solon the Athenian 297 ff: Danach erwähnen folgende Autoren, dass Solon Ägypten besuchte – Herodot (I 29: und zwar, dass Solon nach seiner Gesetzgebung zu Amasis nach Ägypten ging; das ist aber historisch fragwürdig, denn Amasis herrschte von 570/569-526/5 v. C.); Platon, Timaios 21b ff (nach seiner Gesetzgebung?); Aristoteles, Athenaion Politeia 11 (nachher); Plutarch, Solon 26 (nachher); Plutarch, Über Isis und Osiris X 354e (?); Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen I 50 (nachher); daneben nennt Linforth noch: Schol. Plat. Loc. cit.
[52]. Zitiert nach Feix, Herodot I (2000).
[53]. Fadinger weist aaO 181 Fn 9 mwH darauf hin, dass das ägyptische Gesetz offenbar schon älter war, zumal die Reise Solons aus Gründen der Chronologie (Archontat 594/93 v. C.) in die Regierungszeit von Pharao Necho II (610-595 v. C.) oder Psammetichos II (595-589 v. C.) gefallen sein musste.
[54]. Ich verweise auf die Ausführungen P. W. Haiders im Rahmen dieser Veranstaltung.
[55]. Vgl bspw auch die Ausführungen bei Assmann, Ma’at 82 f (Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba: Dieser Text könnte als Vorbild für Solons Klagen über den Zustand seiner Vaterstadt Athen in seinem Eunomia-Gedicht gedient haben) oder 85 ff (Lehre für Merikare und Lehre des Ptahhotep).
[56]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 181 f mwH in Fn 10 und 11.
[57]. Fadinger geht idF aaO 184 ff auf das ägyptische Verbot der Personalexekution und die dahinter stehende Gerechtigkeitsidee der ägyptischen Ma’at ein und hier finden sich (aaO 185) Hinweise, dass es ähnliche Vorstellungen auch in Mesopotamien gegeben habe: zB bei Hammurapi. – Damit scheint aber noch wenig bewiesen, zumal – wie erwähnt – keineswegs feststeht, dass Solon vor seiner Gesetzgebungstätigkeit in Ägypten oder mesopotamischen Bereichen war oder einschlägige Kenntnisse aus diesen Ländern erlangt hatte.
[58]. Miltner, Solon. Fragmente 11 ff weist auf die Hintergründe von Solons Berufswahl (Kaufmann) hin und erinnert dabei an Plutarchs Hinweis, wonach Solon „diese Reisen mehr der Erfahrung willen unternommen sowie der Forschung wegen als um des Gewinnes willen“. – Wie auch immer: Solon scheint auch schon vor seiner politischen Tätigkeiten weite Reisen unternommen und einen äußerst wachen und aufnahmefähigen Geist besessen zu haben.
[59]. Fadinger hat sich dazu nicht geäußert und auch nicht – wie P. W. Haider in dieser Veranstaltung – die historischen Rahmenbedingungen im Hinblick auf ihre ‚Unterstützung’ untersucht.
[60]. Damit stehen wir – so scheint es – vor dem griechischen Begriffspaar von Kosmos und Chaos. Ich verfolge diesen Gedanken hier nicht weiter, wenngleich er mir verfolgenswert erscheint.
[61]. Fadinger, aaO 185 mwH: Das trifft zwar zu, verkürzt aber den deutlich umfassenderen Gehalt dieses Gerechtigkeitskonzepts – wie es von Assmann sorgfältig aufbereitet wurde.
[62]. Die einschlägigen Passagen der Eunomia-Elegie thematisieren dies.
[63]. Griechische Tyrannis und Alter Orient (1993).
[64]. Ma’at (1990). – Fadingers (Solons Eunomia-Lehre 186 f) Bezugnahmen auf Assmann schöpfen dessen Ausführungen nicht aus.
[65]. Dazu Schlögl, Das Alte Ägypten 122 ff (Spätzeit) und insbesondere 128 ff (Renaissance in der 26. Dynastie).
[66]. Vgl auch die idF angeführten weiteren Beispiele.
[67]. Hier verweist Assmann, Ma’at 94 in Fn 8 bezüglich des Testaments im Alten Ägypten ua auf Sch. Allam, in: Oriens Antiquus 16, 1977, 89 ff.
[68]. Nach Assmann, Ma’at 94 f kommt dieser Gedankengang auch in anderen ägyptischen Texten zum Ausdruck, nämlich in der Loyalistischen Lehre/Enseignement loyalist oder in den Worten des Henu.
[69]. Mag vielleicht auch schon eine ältere (gewohnheitrechtliche?) Praxis existiert haben, deren Umfang aber offensichtlich zweifelhaft und daher umstritten war.
[70]. Dazu Assmann, Ma’at 112 ff. – Assmann weist hier darauf hin, dass die Ma’at-Lehre im Rahmen der Zwischen- oder Übergangszeit vom Alten zum Mittleren Reich, einen starken Wandel erfahren und eine wichtige neue innermenschliche Dimension erfahren habe. Ma’at beurteilt nunmehr auch die Rechtschaffenheit des menschlichen Handelns, und dies nicht nur äußerlich, sondern auch von der inneren Einstellung her, ägyptisch: vom Herzen (Assmann, aaO 114 spricht von der „Ausdifferenzierung einer personalen Innenwelt“; Gewissen?) her. Es kommt zur Entwicklung von Tugend(vorstellungen) und parallel dazu zur „Ausbildung einer neuen Seelenvorstellung: des ‚Ba’“; dazu eingehend Assmann, Ma’at 114 ff (Hervorhebungen von mir). Diese neuen Vorstellungen einer unsterblichen Seele verbanden sich, wie Assmann sich ausdrückt, damit, dass die Seelenvorstellungen „demotisiert“ (griechisch: demos = Volk), also auf eine breite Anwendungsgrundlage gestellt wurden. Besaß bis zum Ende des Alten Reichs nur der König eine Seele (einen ‚Ba’), mit der er nach seinem Tode in die Götterwelt eingehen konnte, dehnten die neuen Seelenvorstellungen dies auf alle Menschen aus. – In dieser Entwicklung liegt ein enormer gesellschaftlicher Individualisierungsschub, der demnach von religiösen Vorstellungen seinen Ausgang nimmt und bei Solon bereits eine namhafte säkularisierte Rechtsdimension erlangt hatte.
[71]. Auf die durch Solon signifikant eingeleitete Entwicklung und Förderung des Individuums gehe ich im ‚Buch’ („Graeca non leguntur“?) näher ein.
[72]. Assmann, Ma’at 80 f verweist hier auf das 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs und zitiert daraus. – Vgl schon oben bei Anm 38.
[73]. Ma’at 80.
[74]. Assmann, Ma’at 122 ff. Vgl dazu die Gesamtausgabe von E. Hornung, Das Totenbuch der Ägypter (1997).
[75]. Einen Beleg dafür bietet die Haltung des Pharao/Königs gegenüber dem berühmten ‚Oasenmann’, dessen ‚Klagen’ in derart schönen Wendungen abgefasst waren, dass der König die Anweisung gab, „den beredten Oasenmann möglichst lange hinzuhalten, um ihm auf diese Weise noch weitere Reden von so wunderbarer Schönheit zu entlocken“; dazu Assmann, Ma’at 58 ff.
[76]. Ma’at 85.
[77]. Dazu Assmann, Ma’at 56 f mwH und Nachweisen.
[78]. Assmann, Ma’at 85.
[79]. Ma’at 82 ff. – Zum Begriff des Ba vgl die Ausführungen in Anm 70.
[80]. Dazu ausführlich im ‚Buch’. – Dieser Gedanke gewann in Griechenland und dann in Rom große Bedeutung.
[81]. Ma’at 103.
[82]. Hervorhebungen von mir.
[83]. Assmann, Ma’at 103 f bringt ein eindrucksvolles Textbeispiel aus der Biographie des Rechmire (18. Dynastie: 1540-1292 v. C.), das hier aus Raumgründen nicht abgedruckt wird, aber nachgelesen werden sollte. – Hervorhebungen von mir.
[84]. Vgl nur die kurzen Hinweise bei Schlögl, Das Alte Ägypten 36, 53 und 80 sowie insbesondere Haider, Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten bis ca. 590 v. Chr. (1996) und derselbe, Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaisch-griechische Welt (2004).
[85]. Einleitung, in: dieselben (Hg), Griechische Archaik 12 (2004).
[86]. AaO 13.
[87]. Ein Grund für das bestehende Desinteresse an diesem Thema ist aber wohl auch der, dass rechtliche Fragestellungen historisch immer noch als nicht sonderlich attraktiv gelten. Dazu kommt, dass Vertreter der Rechtsgeschichte das Befassen mit anderen antiken Rechten als dem römischen – bspw mit griechischem – Recht als inattraktiv hingestellt haben. – Daher versuchen wir mit unseren Veranstaltungen für die historische Beachtung auch rechtlicher Fragen jenseits des römischen Rechts zu werben, die ja idR nur im interdisziplinären ‚Verbund’ gelöst werden können.
[88]. Umgekehrt hat aber offenbar auch Fadinger weder neue Beweise nachgereicht, noch auf spätere Publikationen – wie die von Schmitz – reagiert.
[89]. Die Homerdatierung – und damit die von Hesiod – ist nach wie umstritten, was gerade in dieser Frage eine Rolle spielt.
[90]. Pindars XIII. Olympische Ode preist Korinth, das einen Sieger im Stadionlauf und im Fünfkampf gestellt hatte. Auch in der IX. Olympischen Ode (16) Pindars findet sich ein Hinweis auf „Eunomia“.
[91]. Allzuviel lässt sich daraus freilich nicht ableiten, denn Homer gebraucht danach das Wort noch nicht im späteren umfassenderen solonischen Sinn von „Wohlgesetzlichkeit“ (von Thesmos und Nomos) und „guter staatlicher Ordnung“. Und der bei Solon – analog dem Ma’at-Konzept – betonte Schutz der Schwachen und Armen, ist bei Homer bestenfalls ansatzweise vorhanden.
[92]. Zutreffend lässt sich zwar sagen, dass sich Solons Konzept nicht gegen Homer gerichtet hatte, aber er ging deutlich weiter und sein Eunomia-Verständnis integrierte begrifflich die bislang auf verschiedene Götter verteilten normativen Aussagen. – Fadinger vernachlässigte diese mythologisch-religiösen Bezüge von Solons Eunomia-Verständnis. Ratsam wäre auch ein Berücksichtigen so bedeutender Arbeiten wie der von Lloyd-Jones, The Justice of Zeus (1971) oder von Harrisons, Themis (1911/ 1963) gewesen. Daraus geht hervor, dass die Griechen bereits mit den homerischen Epen (und zwar mit steigender Tendenz von der Ilias zur Odyssee) über fundierte Vorstellungen von Recht und Unrecht sowie von Gerechtigkeit verfügten. – Nicht alles stammt daher aus Ägypten.
[93]. Dazu Burkert, Die Griechen und der Orient 28 ff mw sowie Rollinger, Neuassyrische Staatsverträge und Homer: Ein transkultureller Vergleich (2005).
[94]. Vgl P. W. Haider in seinen Publikationen.
[95]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 202.
[96]. Das scheint nicht im übertragenen Sinn gemeint zu sein, ist dann aber unzutreffend.
[97]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 203 mwH. – Fadingers Ausführungen bleiben hier an der Oberfläche: So weist er – wohl im Anschluss an Assmann – zutreffend auf die Bedeutung der sogenannten drei Zwischenzeiten hin (Erste Zwischenzeit: ~ 2134-1991 v. C.; Zweite Zwischenzeit: Übergang vom Mittleren zum Neuen Reich: ~ 1750-1550 v. C.; Dritte Zwischenzeit: 1080 bis einschließlich der Regierungszeit des Bokchoris: ~ 718-712 v. C., ohne zu erwähnen, dass der Inhalt der Ma’at starken Veränderungen unterworfen war.
[98]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft 190 ff (2004). – Ich gehe darauf im ‚Buch’ näher ein.
[99]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft 190 ff (2004).
[100]. Als weitere Quellen wird auf Diogenes Laertios und Plutarch, Solon 17, 1 f verwiesen.
[101]. Ich gehe im ‚Buch’ (in Kapitel II.) näher auf die Popularklage ein, insbesondere auch den Versuch durch K. Latte, diese Klagsform rein ‚innergriechisch’-autochthon zu erklären. Ich begnüge mich hier aus Raumgründen mit dem Fundstellenhinweis, wo Latte diese Erklärung vorgenommen hat; es sind Lattes „Beiträge zum griechischen Strafrecht 263 ff.
[102]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft 197 (2004).
[103]. ME besteht zwischen beiden Konzepten oder Lehren eine Grundlagenverwandtschaft. Die grundsätzliche Übereinstimmung ist immer wieder verblüffend. Fadinger hat es versäumt, dies umfassender und im Kontext der griechischen Entwicklung aufzuzeigen. – Alle erwähnten Parallelen stammen von mir, zumal Assmann auf Solon und Griechenland nicht eingeht. Auch ich kann in diesem beschränkten Rahmen keine vollständige konzeptuelle Gegenüberstellung bringen.
[104]. Vgl Assmann, Ma’at 56 f.
[105]. In Sinne der Funktion einer Generalklausel forderte der Gedanke der Eunomia dazu auf, auch künftig in ihrem Sinne tätig zu werden.
[106]. Ma’at 137.
[107]. Die Beispiele stammen aus dem 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs und lesen sich wie der Dekalog; vgl Assmann, Ma’at 137 ff.
[108]. Die politische Parallele der Situation Solons zur ägyptischen Ersten Zwischenzeit bestand wohl in folgendem: endgültiger Verlust der Adelsmacht durch die von ihm für nötig erachtete neue – weil auf Solidarität und Gegenseitigkeit setzende – politische Poliskultur, die nach einer Werteverschmelzung auf der Basis des Rechts und einer rechtlichen Anerkennung des einzelnen Bürgers verlangte, weil nur so ein politisches Teilhabekonzept aller geschaffen werden konnte; + Hoplitenheer + akzelerierter sozialer (insbesondere auch wirtschaftlicher) Wandel. – Auch in Ägypten war es um die Einordnung aller (!) in eine solidarische Gemeinschaft gegangen; Assmann (Ma’at 69) bezeichnet das als iustitia connectiva und spricht andernorts (aaO 90) anschaulich von der „Erkenntnis der eigenen Nichtautarkie“ und der „Angewiesenheit auf den anderen“. Solons Kenntnis des bäuerlichen Lebens und der bäuerlichen Werte (dazu W. Schmitz) hatte ihn offenbar zu diesen Einsichten (, dass ich den anderen brauche,) geführt, die – wie Assmann zu Recht betont – deutlich realistischer sind, als die „radikal altruistische Wendung, die die jüdisch-christliche Tradition dieser Einsicht“ gab.
[109]. Eine Schwäche der Arbeit Fadingers liegt darin, dass er den enormen Wandel des Ma’at-Konzepts übergeht. Aber Ma’at stellte im Laufe der ägyptischen Geschichte etwas sehr Verschiedenes dar; so wie die homerische Eunomia kaum etwas mit der solonischen gemein hat.
[110]. Darin liegt wohl auch der Grund für die eigenartige Ambivalenz der alten Griechen gegenüber Solon: Sie lehnten dieses (Lebensführungs)Konzept ab, sodass es zunächst politisch scheiterte, hielten idF aber Solons Ideen hoch, obwohl sie nur Bruchteile seiner Gedanken akzeptierten.
[111]. Assmann, Ma’at 13 weist hier auf den französischen Soziologen und Indologen L. Dumont hin, der diese beiden Optonen als „homo hierarchicus“ und „homo aequalis“ einander gegenübergestellt habe. – Assmann stellte fest, dass der von ihm für die Ma’at verwendete Begriff der ‚vertikalen Solidarität’ dem des homo hierarchicus entspreche, wenngleich sein Begriff neben dem Gedanken der Unterordnung auch die Idee der Gemeinschaft zum Ausdruck bringe, ohne welche Unterordnung in Unterdrückung umschlage, was auch für das andere Prinzip gelte.
[112]. Ich gehe darauf in meinem Buch „Graeca non leguntur“? näher ein.
[113]. Es ist das Verdienst von W. Schmitz (Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft), uns diesen Vorgang auf neuestem Forschungsstand vermittelt zu haben. – Ich gehe auf den Prozess der Polisbildung im ‚Buch’ näher ein.
[114]. Ma’at 217.
[115]. Ma’at 54.
[116]. Die Ma’at war ursprünglich „der Wille des Königs“ und wurde erst durch die schwere Krise der Ersten Zwischenzeit (Untergang des Alten Reichs am Ende des 3. Jts. v. C.) zu einem allgemeinen Verhaltenskonzept, das nun alle, auch den König, einband. (Das Verständnis der Ma’at unterlag danach einer starken, krisenbedingten Veränderung, was übrigens auch für das Gesetzesverständnis der Griechen galt: Dieses entwickelte sich ausgehend vom nomologischen Wissen iSv Max Weber, über den Alten Nomos, den Thesmos, hin zum Neuen Nomos.) – Mit dem zeitweiligen Verfall, ja Zerfall der Zentralinstanz in der Krise konnte sich auch der Einzelne, das Individuum entwickeln, das im Alten Reich noch bloß als „Baustein im integrativen Gefüge des Staates“ verstanden worden war. Die ursprüngliche Einheit von „Herrscher und Gott, Kultur und Natur, Gesellschaft und Kosmos, Gerechtigkeit und Weltordnung“ zerfiel mit dem Alten Reich. – Es ist mE kein Zufall, dass auch mit Solon (und zwar ebenfalls aus der existenziellen Krise seiner Vaterstadt heraus) der Einzelne als Rechtsperson entsteht. – Stark zeitverschoben zu Ägypten wird in Athen ebenfalls der erwähnte Zerfall der bisherigen Weltordnung thematisiert (beginnend mit Solons Dichtung!): Das erfolgt dann aber in Griechenland erst in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. C., ausgelöst durch die Sophistik, im Rahmen der Nomos-Physis-Debatte. Auch dabei wird das Auseinanderfallen der ursprünglichen Einheit von Kultur und Natur, Gesellschaft und Kosmos, Gerechtigkeit und Weltordnung reflektiert. Mit dem endgültigen Zerbrechen dieser zuletzt schon fragilen Einheit wird nach Ersatz gesucht und dieser im Gesetz der Polis, dem strengen Nomos, gefunden, der aber durch Epieikeia gelockert wird und – wenn nötig – ein individualisierendes Eingehen auf den Einzelfall ermöglicht.
[117]. Dazu Assmann, Ma’at 20 ff.
[118]. Auf die Entstehung des Gewissens in Ägypten wurde bereits hingewiesen.
[119]. Dazu Assmann, Ma’at 213 f.
[120]. Assmann, Ma’at 214: „… das Böse liegt in der menschlichen Natur, die, wenn man sie nur gewähren lässt, alle Chancen von Macht, Reichtum, Stärke und Einfluß nutzen wird, um die Schwächeren zu unterdrücken“.
[121]. Diese Kompetenz war bei den Griechen, jedenfalls seit Solon, auf das Volk übergegangen.
[122]. Das könnte bedeuten, dass ägyptischer Einfluß bereits früher am Werk war.
[123]. Antiphons dritte Tetralogie, behandelt einen solchen Fall.
[124]. Fadinger, Solons Eunomia-Lehre 209 mwH.
[125]. Die Existenz einer Klasse ‚Minderfreier’ stellt einen konzeptuellen Widerspruch zur Ma’at-Lehre dar; vgl Allam, Eine Klasse von Minderfreien (sog. merit) im pharaonischen Ägypten (2005).
[126]. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft (2004).
[127]. Insbesondere Lloyd-Jones, The Justice of Zeus (1971) oder Harrison, Themis (1963) uam.
[128]. Ich fände es als lohnende Aufgabe, selbst mancher Frage künftig nachgehen zu können, aber ich zweifle ob mir mein groß angelegtes Werk über die ‚Griechen’ dafür den nötigen zeitlichen Spielraum lässt. Ich kann daher nur dazu ermuntern, manchen in der ägyptischen Geschichte noch verborgenen Schatz der Rechtsgeschichte zu heben.
[129]. Die inhaltliche Dimension einer so verstandenen und – insbesondere auch abgeleiteten – Rechtsstaatlichkeit besitzt erstaunlich moderne Züge und erscheint dem – im 19. Jh. stark gewordenen Rechtspositivismus überlegen. Denn die behandelten antiken Gesamtkonzepte stellen Vorläufer natur-, ja vernunftrechtlicher Konzeptionen dar und begnügten sich nicht (wie der Rechtspositivismus) mit formalen Kriterien. Recht musste danach schon damals, um als Recht anerkannt zu werden, gleichsam ein normativ-inhaltliches Sieb oder – wenn man will – eine Prüfinstanz (Ma’at, Eunomia) passieren, um zu ‚Recht’ zu werden, und als gesellschaftstaugliche Regel dienen zu können. Das hatte mit einer weiteren Besonderheit des Ma’at- und idF des Eunomia-Konzepts zu tun, nämlich: Mit dem schalen- oder sphärenartigen Aufbau, der von diesen frühen Gesellschaften erdachten (und gelebten) Gesamtheit des Seinsverständnisses. Danach umhüllte oder umschloß die in sich mehrfach gegliederte göttlich-kosmische Sphäre, die Sphäre der Natur, die häufig ebenfalls mehrschichtig oder mehrschalig zu denken ist; und diese beiden Sphären umschlossen und determinierten ihrerseits die Sphären/Schichten des ebenfalls gegliederten Gesellschaftlich-Menschlichen.
[130]. Es erscheint durchaus realistisch, in jenem Segment beider Gesellschaftskonzepte (der Ma’at und der Eunomia), das den Schutz Schwacher und Armer etc verlangt, aktuelle Bezüge zu entdecken. Dieser ägyptisch-griechische Ansatz kann als Beginn sozialstaatlicher Vorstellungen betrachtet werden, deren Marginalisierung wir heute befürchten müssen. Mag es auch – wie schon im Altertum – nötig erscheinen, Inhalte und Gestalt der gesellschaftlichen Solidarität immer wieder an die sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.